Tontauben
rhetorische Frage, er erwartete keine Antwort.
Perfektionistisch, ungeduldig. Zu offen, ehrgeizig oder tolerant. Zu zurückhaltend oder zu gutmütig. Höchstens mal, dass einer zugibt, aufbrausend zu sein, aber auch das wird ins Positive gekehrt, indem er gleich hinzusetzt, dass er sich schnell wieder verträgt. Von mir, seine Stimme klang übertrieben drohend, bekommst du zum Abschied eine wirklich negative Eigenschaft genannt, keine Mogelpackung.
Lass es das Richtige sein, dachte Esther. Sie hätte nicht sagen könne, was das Richtige war, aber sie würde es erkennen.
Also. Frank legte eine kleine Kunstpause ein, dann sagte er: Ich bin nicht sehr ehrlich, ja man könnte sogar sagen, ich bin einigermaßen verlogen.
Er kratzte sich am Hinterkopf und setzte nun doch die Brille auf. Esther lächelte, aber sie war bestürzt.
Heißt das, dass du immer lügst?
Sie wünschte, er hätte sich als faul bezeichnet, als eitel oder zynisch. Nur nicht als verlogen.
Nein, sagte er und streckte eine Hand nach ihr aus, aber sie betrachtete aufmerksam die Wand mit ihrem hellgelben Streifenmuster.
Natürlich nicht. Jetzt gerade war ich zum Beispiel sehr ehrlich.
Aber in Zukunft, sie biss sich kurz auf die Lippen: Sie hatten keine Zukunft miteinander. Doch sie konnte nicht zurück, ängstlich und störrisch rannte sie weiter in die eingeschlagene Richtung. In Zukunft werde ich also nie wissen, ob du mir die Wahrheit sagst oder mich anlügst?
Doch. Er schürzte beruhigend die Lippen. Ganz so schlimm ist es nicht.
Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Er schien überrascht über den plötzlichen Wechsel der Tonlage.
Vergiss es einfach, sagte er. Ich lüge nur manchmal.
Wann?
Na, du weißt schon.
Er seufzte, dann stand er auf und stellte sich vor sie hin.
Wenn ich mich verspäte, etwas vergessen habe, wenn ich keine Lust habe, jemanden zu treffen. Notlügen halt.
Notlügen. Wann ist man in Not?, dachte sie. Wenn man sich getäuscht hat. In sich. Im anderen. Er hatte ihre Hände in seine genommen und schaukelte sie linkisch hin und her. Sie mussten aussehen wie zwei traurige Kinder.
Ist schon in Ordnung, sagte sie und entwand ihm ihre Hände. Ich gehe mal rüber.
Sie lächelte unsicher. Die Schuhe mit den abgestoßenen Spitzen, das helle Kleid, dessen Gürtel sie nun fester zuzog, kamen ihr mit einem Mal schäbig vor, unpassend, während ihn seine Nacktheit auf seltsame Weise unangreifbar zu machen schien. Die Tür zum Badezimmer stand offen, sie konnte sich im Spiegel sehen: ihr schmales Gesicht mit der kurzen, spitzen Nase und den dunklen Augen, der kleine hoffnungslose Mund, ihr lächerlich dünner Hals, unter dem die Schultern plump wirkten, die blonden zerzausten Haare. Das bin ich, dachte sie: ein Vogel in der Mauser.
Sehen wir uns gleich zum Frühstück?, fragte er.
Sie nickte.
Wie immer.
Es war der dritte Tag der Konferenz. Auf dem Weg in ihr Zimmer rechnete sie nach: Sie liebte ihn seit beinahe achtzig Stunden.
Ein Klumpen weißgrauen Materials, der vor ihnen im Sand lag, ließ die Gruppe anhalten. Einer der Berner, das angegraute Haar militärisch kurz über einem harmlosen, breiten Gesicht, stieß den Klumpen mit einem kleinen Stock an.
Relativ fest, sagte er.
Als er stärker drückte, verschwand die Spitze des Stöckchens in der graufleckigen Masse.
Wachsartig.
Seine Stimme war rau, die starke Betonung der ersten Silbe gab seinen wenigen Worten etwas Melodiöses. Lone war in die Hocke gegangen und berührte den Brocken, dann roch sie an ihren Fingern.
Riecht seltsam, stellte sie fest, und Claire rief: Wie kannst du das anfassen? Bist du verrückt?
Der Berner hatte sich erhoben und betrachtete nachdenklich den Klumpen.
Könnte Ambra sein, sagte er und blickte fragend zu seinem Kollegen.
Glaube ich nicht, entgegnete der unbeeindruckt. Nicht an der Nordseeküste.
Auch hier das Melodiöse der Aussprache, die gleichzeitige Behäbigkeit.
Was ist Ambra?, fragte Lone, und sie versuchten auf Englisch zu erklären: Erbrochenes vom Wal, ein Rohstoff in der Parfumherstellung, wertvoller als Gold. Claire kannte eine Geschichte von einem australischen Fischer, der mit einem Brocken Ambra – kleiner als der, der hier vielleicht vor ihnen lag – reich geworden war. Unermesslich reich, sagte sie. Und dass es seine Frau gewesen sei, die ihn überredet habe, den übelriechenden Klumpen mitzunehmen.
Frank sagte, aus Scheiße Gold machen, und Claire korrigierte geduldig: Ambra sei
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