Tontauben
sie daran dachte, war es, als dächte sie an die Zeit nach ihrem Tod. Sie sah sich umfangen von schwarzer Leere, während sich die Welt turbulent und bunt in großer Ferne weiterdrehte.
Wow, machte Lone. Ich glaube, bei mir wird das nichts mehr. Ich verliebe mich immer in die Falschen: In die, die mich nicht wollen oder die so viele Probleme mit sich selbst haben, dass sie gar nicht erst auf die Idee kommen, sich zu verlieben.
Ihr Gesicht hatte den Ausdruck komischer Verzweiflung angenommen. Bevor Esther etwas entgegnen konnte, fuhr sie fort:
Im letzten Jahr war ich mit einem Psychiater zusammen, nicht mein Psychiater, um Himmels willen, aber komisch war es trotzdem. Bei jedem Streit hatte ich das Gefühl, dass er sich gerade insgeheim Notizen machte, so nach dem Motto: aufbrausend, unsicher, Kindheitstrauma.
Wieder dieses Schnauben, das kein Lachen war: nicht mehr oder noch nicht.
Unser letzter Streit, erzählte sie, war der heftigste. Danach war klar, dass wir etwas ändern mussten.
Sie besann sich einen Moment, dann sagte sie langsam: Pathologisch. Ich sei pathologisch, hat er behauptet. Irgendwie hatte ich darauf nur gewartet. Es war wie eine Bestätigung.
Sie zuckte die Achseln und lächelte mit herabgezogenen Mundwinkeln. Was soll’s, schien das zu heißen. Was soll’s.
Es kommt bestimmt noch der Richtige, sagte Esther lahm, und Lone verdrehte ihre braunen, ein wenig eng stehenden Augen und sagte: Keinen billigen Trost, bitte.
Dann kam zu Esthers Erleichterung das Taxi, das sie fortbrachte: fort vom Hotel, fort von der streng blickenden Rezeptionistin, fort von den Hochzeitsgästen, die inzwischen zu tanzen begonnen hatten, fort vom Meer.
Natürlich waren sie nicht fort vom Meer. Solange sie auf dieser Insel blieben, war das unmöglich. Aber sie bezogen ein Hotelzimmer im Inselinneren. Das Hotel stand einige Meter zurückversetzt an der Straße, die die Nord-Süd-Achse bildete. Wenn sie aus dem Fenster blickten, sahen sie nun nicht mehr das Meer, sondern Autos, die im gemächlichen Tempo über die breite Straße fuhren. Esther machte sich einen Spaß daraus, die Autos zu zählen und sie nach Farben zu ordnen: Sie zählte fünfzig Autos. Sie brauchte dazu neun Minuten und vierzig Sekunden, das hieß, pro Minute fuhren etwa fünf Autos am Hotel vorbei. Davon waren 28 schwarz, anthrazit oder so dunkelblau, dass sie wie schwarz wirkten. Neun waren rot oder orange, acht silber, vier weiß und eines hellgelb.
Kannst du dir das erklären?, fragte sie Frank, der hinter ihr auf dem Bett lag und die Hotelbroschüre durchblätterte.
Was?, fragte er, ohne aufzublicken.
Diese Vormacht der dunklen Autos.
Noch während sie sprach, wusste sie, dass sie sich falsch ausdrückte. Vormacht. Welch ein Ernst in diesem Wort lag. Das ganze Unternehmen war idiotisch, dachte sie: Mit ihm, den sie kaum kannte, in ein Hotel zu gehen. Darauf zu warten, was als Nächstes geschehen würde. Autos zu zählen, wie sie es als Kind auf langen Reisen gemacht hatte. Auf Listen hatten sie und ihr Bruder die Farben eingetragen, die Automarken, später, als ihnen die Abkürzungen etwas sagten, die Städte und Länder.
Frank faltete die Broschüre des Hotels zusammen und legte sie auf den Nachttisch.
Interessante Frage, sagte er und stand auf, um zu ihr zu kommen.
Sie wandte sich wieder dem Fenster zu, und er legte sein Kinn auf ihre Schulter und seine Hände auf ihren Bauch.
Da! Schon wieder ein dunkles.
In gespielter Aufregung zeigte er nach draußen.
Und noch eines. Und jetzt ein rotes!
Ja, ja, sagte sie. Schon gut.
Sie kam sich albern vor. Hatte den Eindruck, sich nicht rühren zu können. Wagte nicht, tief einzuatmen, solange er sie umarmte. Das Einfachste würde sein, ihn zu küssen, damit das hier ein Ende hätte. Seine linke Hand hielt eine Brust umfangen, die andere bewegte sich abwärts und fasste sie fest zwischen den Beinen. Sie hatte plötzlich Lust, ihn zu reizen. Nicht, indem sie ihn anfasste. Nicht körperlich. Aber verbal. Ficken, reinstecken, blasen. In Gedanken bildete sie die Sätze. Möchtest du mich ficken? Soll ich dir einen blasen? Steck ihn rein. Fick mich, hörst du: Fick mich. Er knöpfte ihr die Bluse auf, öffnete den Reißverschluss ihrer Hose, schob sie über die Beckenknochen. Von der Straße aus mussten sie zu sehen sein. Er zog ihr die Bluse aus, öffnete ihren BH. Sie fühlte sich schön. Unverletzbar. Einen unsinnigen Moment lang wünschte sie, dass Jean sie so sähe. Müsste er sich nicht mit
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