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Tontauben

Tontauben

Titel: Tontauben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Mingels
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Erbrochenes, kein Kot.
    Sie beschlossen, den Brocken liegen zu lassen. Wo hätten sie ihn auch hinbringen sollen? Es war der letzte Tag ihres Aufenthalts. In wenigen Stunden würden sie ihre Flüge, Zugreisen oder Autofahrten antreten und die Insel verlassen. Zudem sei Ambra heute nicht mehr viel wert, hatte der zweite Berner erklärt: Macht man inzwischen alles synthetisch.
    Seine dunklen, unter schweren Lidern fast verschwindenden Augen hatten niemanden angeschaut, als wäre es ihm eine unangenehme Pflicht, die Aufregung über den Fund zu dämmen. Wie alt mochte er sein? Anfangs hatte Esther ihn auf vierzig geschätzt, nun erschien er ihr älter. Er war groß und kräftig, er war, hatte Esther gedacht, genau das, was man früher stattlich genannt hatte, während man es heute als dick bezeichnen würde. Nicht dick, korrigierte sie sich. Beleibt. Korpulent. Er hatte etwas Vages an sich, etwas, das zu jeder seiner Eigenschaften das Gegenteil bereitzuhalten schien. Etwas Bösartiges im Gutmütigen, etwas Flüchtiges im Abgeklärten, etwas Tückisches in der behäbigen Lauterkeit. Es schien Esther ganz und gar nicht unmöglich, dass er, wenn alle anderen abgereist wären, an den Strand zurückkehren und den Brocken mit sich nehmen würde.
    Sie liefen weiter, stapften mit schweren Schritten durch den Sand, während der Wind an ihren Haaren, den Kapuzen und Mützen rüttelte, als sei er wütend und durch nichts zu besänftigen. Auf Höhe des Hotels überquerten sie den Strand und stiegen die Holzstufen zu den Dünen hoch. Das blasse Gras wirkte weich wie das lange Fell eines Tieres.
    Hast du gesehen, sagte Frank und deutete auf einen Mann, der inmitten des Grases flach auf dem Rücken lag. Da hat es sich einer bequem gemacht.
    Der Mann trug eine Military-Jacke und eine dreiviertellange, ockerfarbene Hose. Beine, Hände und Gesicht waren braun, wie ein Chamäleon schien er sich seiner Umgebung anzupassen, um in ihr zu verschwinden. Neben seinem Kopf stand eine Flasche Wein.
    Meinst du, es ist alles in Ordnung mit ihm?, fragte Esther.
    Sie war stehen geblieben und beschirmte mit einer Hand ihre Augen, um besser sehen zu können.
    Klar. Frank lachte. Der schläft den Schlaf des Gerechten.
    Als hätte der Mann sie gehört, richtete er sich in diesem Moment auf. Er blickte sie starr und mit ausdrucksloser Miene an. Seine Wangen waren dunkel von Bartstoppeln, die Augen von einem beinahe leuchtenden Weiß. Ohne den Blick von ihnen zu lösen, wischte er sich mit einer Hand den Sand von der Stirn, während er mit der anderen nach der Weinflasche griff. Unwillkürlich lächelte Esther. Der Mann setzte die Flasche an und trank, dann ließ er sich in das Gras zurücksinken wie in ein Krankenbett.
    Lass uns weitergehen, sagte Esther.
    Sie fühlte sich, als ob sie unerlaubt in ein Zimmer geschaut hätte. Als hätte sie einem Gespräch gelauscht, das nicht für sie bestimmt war und das unangenehme Wahrheiten über sie bereithielt.
    Was ist?, fragte Frank, der den Blick des Mannes unverwandt erwidert hatte. Fühlst du dich ertappt?
    Weiß nicht, sagte Esther. Ja. Vielleicht.
    Der Holzsteg, der durch die Dünen führte, endete und machte weichem Sand Platz, der ihnen kühl in die Schuhe rann. Der Abstand zur Gruppe war nicht groß. Esther konnte Claire hören, ihre von den hohen in tiefe Tonlagen wechselnde Stimme, mit der sie auf Johan Mortimer einredete. Er hatte seine Hände hinter dem Rücken verschränkt und schien das Gespräch ebenso bereitwillig wie teilnahmslos zu ertragen. Esther hatte ihn während des Kongresses beobachtet. Seine Zurückhaltung, die er nur in den fachlichen Diskussionen aufgab, um dann umso polemischer zu argumentieren. Seine Angewohnheit, die weißen, halblangen Haare mit beiden Händen zurückzustreifen. Seine bäurische Art, sich tief über den Teller zu beugen, die vielleicht nur dazu diente, sich von allen Behelligungen abzuschirmen. Sie war inzwischen davon überzeugt, dass er über weit weniger Renommee verfügte, als er die anderen, bewusst oder unbewusst, glauben machte. Dass sie seinen Namen noch nie gehört hatte, hieß nicht viel: Ihre Kenntnisse in der Mediävistik waren, das wusste sie, weit davon entfernt, umfassend zu sein. Aber auch den anderen – Frank, Claire und Lone – war sein Name nie zuvor begegnet.
    Auf der Straße, die zum Hotel führte, parkten Autos einer Hochzeitsgesellschaft. An den Antennen und Rückspiegeln waren weiße Schleifen befestigt, auf einem schwarz glänzenden Volvo

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