Tontauben
muss ja selbst schauen, wo man bleibt. Er hatte diese Antwort genau richtig gefunden, auch wenn sie als Scherz gemeint war. Aber so sei es, so sei er , gestand er: zu egoistisch. Und sie, er hatte Esther prüfend angesehen, vielleicht auch? Ja, hatte Esther gesagt, mag sein. Sie hatten einander ihre Vorlieben gestanden und einige ihrer Fantasien, sie hatten ein paar Erlebnisse geschildert, bei denen unklar blieb, wie viel davon wirklich passiert war, sie hatten sogar ein politisches Gespräch geführt und schnell wieder abgebrochen. Aber sie hatten mit keinem Wort die Inhalte der Tagung erwähnt.
Aha, sagte Frank.
Er wandte nur langsam den Blick von der Straße ab und Esther zu, als überlegte er, ob er auch gegen ihr offensichtliches Desinteresse sein Spiel fortsetzen sollte. Dann wiederholte er: Aha, und setzte hinzu: Und was war daran spannend?
Na ja. Esther zögerte. Was war sein Thema gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern. Es war verblüffend, dass sie, obwohl sie bereits seit einiger Zeit wusste, dass die Mediävistik sie langweilte, ja, dass sie ihr etwas Verschrobenes, Blaustrümpfiges verlieh, immer noch das Gleiche wie seit Jahren tat. Dass sie, obwohl sie weder Interesse noch Freude an ihrem Fach hatte, weiterhin an der Universität blieb. Vielleicht lag es daran, dass es nichts gab, was sie mit einiger Dringlichkeit in eine andere Richtung dirigiert hätte – keine Begabung, keine ausgeprägten Interessen. Dann fiel es ihr ein: Das Problem der Willensfreiheit in den mittelalterlichen Liebesepen.
Ich finde –. Sie biss sich auf die Unterlippe und legte sich ihre Worte zurecht. Ich finde, dass du das ethische Dilemma gut beschrieben hast: Dass da einerseits der vorchristliche Schicksalsbegriff durch Gott abgelöst worden ist – er ist ja der Lenker der Menschen, man könnte sagen, der alleinige Demiurg ihrer Welt und Wirklichkeit, nicht wahr? – und dass sich andererseits manche Dinge dann eben nicht erklären lassen. Wie die Liebe, die über zwei Menschen hereinbricht und die gegen ethische, ja christliche Normen verstößt, und gleichzeitig, weil sie ja von ganzem Herzen kommt – sie hatte die letzten Worte so stark betont, dass man sie ironisch verstehen konnte –, eben doch nicht teuflisch sein kann.
Die Sache begann ihr Spaß zu machen.
Ich meine, wenn es die Willensfreiheit des Einzelnen nicht gibt, und davon müssen wir ja beim mittelalterlichen Weltbild ausgehen, muss eben etwas anderes die Liebe und den Regelverstoß bewirken. Der Minnetrank, zum Beispiel, oder ein Zauber.
Frank hatte ihren Ausführungen aufmerksam zugehört, jetzt beugte er sich in seinem Korbstuhl nach vorne.
So einfach ist das nicht, sagte er. Immerhin gab’s ja auch im Mittelalter schon Indeterministen. Wilhelm von Ockhams zum Beispiel vertrat die Anschauung, dass der Wille die Freiheit gegenüber Gott markiere.
Aber das Dilemma bestand doch, beharrte Esther. Ich meine jetzt ja nicht die unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen.
Theologischen Positionen, korrigierte Frank sie.
Dann eben theologische.
Was hatte sie sagen wollen? Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, Viertel nach drei, ihr Kopf war erstaunlich schwer, sie fuhr sich mit einer Hand in den Nacken. Frank hatte die Fingerspitzen zusammengeführt und sah sie über das spitze Dach seiner Hände hinweg mit freundlicher Herablassung an.
Aber trotzdem, sagte sie tapfer. Zur moralischen Entlastung der Liebenden wird ein Zaubermittel in die Handlung eingeführt. Das hast du doch selbst gesagt.
Hatte er doch. Oder? Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher.
Frank nickte bedächtig. Seine dunklen, unruhigen Augen zwinkerten einige Male. Hinter den dicken Gläsern blickten sie Esther wie aus weiter Ferne an.
Das wäre was, nicht wahr? Wenn’s das heute auch noch gäbe, so einen Minnetrank.
Er stieß ein hustenartiges Lachen aus und nahm einen Schluck von seinem Grog.
Wobei, fuhr er fort, Alkohol ist ja auch so was in der Art. Der einzige Unterschied ist, dass man den wissentlich trinkt: eine Entscheidung trifft man, so oder so, daran führt in unserer Zeit kein Weg vorbei. Du wirst also, er gab seiner Stimme nun einen Klang, als versuchte er, einem störrischen Kind etwas Offensichtliches zu erklären, die Verantwortung für das, was du tust, selbst tragen müssen. Kein Schicksal in Sicht, kein Demiurg , kein Zaubertrank!
Ich hatte es nicht auf mich bezogen, sagte Esther.
Es war erstaunlich, wie rasch Frank alles, was sie sagte, gegen sie
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