Top Secret. Der Clan: Die neue Generation 1 (German Edition)
ihren Vaterbruder ermordet.«
Ning war sich nicht sicher, ob Vaterbruder Vater und Bruder oder Bruder des Vaters bedeutete, aber auf jeden Fall klang es besser, als gar nicht behandelt zu werden.
»Bist du sicher, dass sie hier nicht nach mir suchen?«, fragte Ning, nachdem sie den letzten Brotkrümel aufgegessen hatte.
»Leonid braucht dich nicht. Ingrid ihm alles geben, was er will.«
Ning hatte noch nicht daran gedacht, nach Ingrid zu fragen. Sie musste nach Luft schnappen. Ingrid hatte geglaubt, dass Leonid sie umbringen würde, sobald er hatte, was er wollte.
»Wo ist sie jetzt?«
Dans Gesichtsausdruck sagte Ning, dass Ingrid recht gehabt hatte.
»Oh Gott!«, stieß sie hervor, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Bitte nicht schreien«, sagte Dan hastig, bereit, ihr den Mund zuzuhalten. »Wände sehr dünn. Leute oben hören!«
»Wie?«, fragte Ning und fügte dann zornig hinzu: »Warum hast du nichts gesagt?«
Dan wirkte verletzt. »Ich will, du stark, bevor ich dir sage.«
»Wie?«, wiederholte Ning.
Dan kannte das richtige Wort nicht, legte sich stattdessen aber die Hände um den Hals.
»Erwürgt«, stellte Ning fest.
»Nicht große Schmerzen«, sagte Dan, griff in die Jeanstasche und nahm einen Goldring mit drei winzigen Diamanten heraus.
»Leonid nimmt Ring mit großem, großem Diamant. Gibt anderem Mann Goldkette und das mir. Musst du jetzt haben.«
Ning hatte das Gefühl, die Fassung zu verlieren, als sie den Ring nahm und langsam vor ihren Augen drehte. Ihr Stiefvater hatte Ingrid sehr schönen Schmuck gekauft, aber dieses schäbige alte Ding war das einzige Stück, das Ingrid neben ihrem Ehering immer getragen hatte. Sie nannte ihn ihren Argos-Katalog-Ring, obwohl Ning keine Ahnung hatte, was das bedeuten sollte.
Dan legte ihr eine Hand auf den Rücken und wiederholte, dass es ihm leidtat, und Ning hielt den Ring an ihre Nase. Vorsichtig roch sie an der Innenseite und bekam einen Hauch von Ingrids süßem Wodkaduft in die Nase.
»Mein Bett ist deins«, sagte Dan, als Ning leise weinte. »Du musst fest schlafen.«
22
Ning konnte Dans Wohnung nicht verlassen. Die erste Nacht hatte sie vor Schmerzen wach gelegen und sich gefragt, ob er wohl zu gut sei, um wahr zu sein. Aber es stellte sich heraus, dass das Schlimmste an Dan seine stinkenden Füße und die nächtlichen Furz-Eruptionen waren, die bald zu einem Witz unter ihnen wurden.
Dans Krankenschwesterfreundin versorgte sie. Sie richtete ihre Zehe und wickelte sie fest in eine Bandage, säuberte die Brandwunde und holte mit der Pinzette Splittstückchen aus der tiefen Wunde an ihrem Kinn. Ning gab Dan ein paar ihrer US-Dollar und er kam mit einer Tüte voller elastischer Binden, Desinfektionsmittel und einer Brandsalbe zurück.
Meistens arbeitete Dan von früh morgens bis nach Einbruch der Dunkelheit. Er sagte, er mache Jobs für Leonid Aramov, aber wenn sie nach Einzelheiten fragte, machte er dicht. Sie kochten zusammen und schliefen Kopf an Fuß in dem Doppelbett.
Während der ersten Tage war Ning nicht zu viel zu gebrauchen. Sie verbrachte Stunden an Dans X-Box und arbeitete sich durch seine DVD-Raubkopien, die zumeist grausige Splatter-Movies oder Kampfvideos waren. Am dritten Tag war sie bereits beweglicher und entschloss sich, gegen den Dreck vorzugehen. Sie wischte den Boden und putzte das Bad, schrubbte die Küchenschränke und warf das vergammelte Essen aus dem Kühlschrank.
Die Wäsche musste von Hand gewaschen werden, und so arbeitete sie sich in den nächsten Tagen durch Dans Unterwäschehaufen, die Bettlaken – die vermutlich seit ihrer Anschaffung noch nicht gewaschen worden waren – und mehrere Jeans, die so dreckig waren, dass sie selbst nach dreimaligem Waschen und Auswringen das Wasser immer noch schwarz färbten.
Das Einzige, was sie nicht wusch, waren die Vorhänge, da Dan ihr befohlen hatte, sie jederzeit geschlossen zu halten.
Es war anstrengend, aber die Beschäftigung hielt sie vom Grübeln ab.
Am dritten Abend hatte Dan ein Date, und Ning sah eifersüchtig zu, wie er sich beeilte, nach der Arbeit ein Hemd und Jeans anzuziehen, die sie gewaschen hatte. Insgeheim hoffte sie, dass er um acht Uhr abends mit einem roten Fleck von einer Ohrfeige zurückkommen würde, aber als er um zwei Uhr nachts endlich kam, hatte er Lippenstift am Kragen und sang beim Zähneputzen.
»Habt ihr euch geliebt?«, fragte Ning, als er ins Bett stieg.
Dan verstand sie nicht. »Was heißt geliebt?«
»Sex«,
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