Top Secret. Der Clan: Die neue Generation 1 (German Edition)
anderen Frauen misstrauisch werden.«
»Es wird noch mehr Misstrauen geben, wenn ich den Vertrag mit dem Supermarkt verliere und die ganze Bande entlassen muss! Sie können morgen früh herumtelefonieren und herausfinden, wem sie gehört, aber heute Nacht arbeitet sie wie alle andern auch!«
32
Ning war groß für ihr Alter. Mit der Gesichtsmaske und dem Haarnetz unterschied sie sich nicht viel von den anderen Frauen. Sie hatte sechs Tage lang am Fließband gearbeitet, und niemand hatte ihre Rolle infrage gestellt, seit sie der Boss am ersten Tag angestellt hatte. Die Fabrik hatte zu wenig Arbeiterinnen, und das Einzige, was für die Verantwortlichen zählte, war, dass man Sandwiches zustande brachte.
Die Schichten begannen um drei Uhr nachmittags. Sie sollten zwölf Stunden dauern, mit zwei fünfzehnminütigen Pausen, aber in der Realität durfte niemand gehen, bevor das Produktionssoll nicht erfüllt war, daher waren eher Schichten von dreizehn oder vierzehn Stunden üblich. Sie waren eingeteilt in Vorbereitung, wo das Gemüse geputzt, das Fleisch aufgeschnitten und die Dressings gemischt wurden, und dann in die Fließbandarbeit, bei der die Frauen die Sandwiches belegten.
Es war kühl in der Fabrik, damit die Lebensmittel frisch blieben, aber die harte Arbeit brachte die Frauen dennoch ins Schwitzen. Die Einrichtung war modern und alles musste den strengen Hygienevorschriften der Supermarktkette entsprechen.
Wenn jemand zu langsam arbeitete oder die Brote zu großzügig belegte, wurde er von den Aufsehern nur milde ermahnt, aber wenn jemand eine Hygienevorschrift brach, gab es richtig Ärger. Ein einziges Versagen bei einem Bakterientest oder ein Haar auf einem Sandwich konnte dazu führen, dass die Supermarktkette den Vertrag kündigte und alle ihren Job verloren.
Die Arbeit war eher monoton als schwer, aber die langen Arbeitsstunden ermüdeten alle. Nach jeder Schicht wurden die Frauen in fensterlose Lieferwagen gequetscht und ein paar Straßen weiter zu den Häusern gefahren, in denen sie wohnten.
Da die Sandwiches jeden Morgen um halb fünf ausgeliefert werden mussten, aßen die Frauen ihr Abendessen ungefähr eine Stunde, bevor die meisten anderen Menschen aufstanden, und schliefen dann fast den ganzen Vormittag lang. Wenn sie aufwachten, war es meist früher Nachmittag, und sie hatten nur wenig Zeit, sich zu waschen und zu essen, bevor sie wieder in die Fabrik gebracht wurden.
Ning brauchte mehr Schlaf als die erwachsenen Frauen, und Mei musste sie stets anstupsen, damit sie aufstand. Ihr Zimmer lag im Keller. Es hatte sechs Betten, und die Fenster waren zugenagelt, damit sie bei Tageslicht schlafen konnten.
»Wenn du nicht bald aufstehst, kannst du vor der Arbeit nicht einmal mehr etwas essen«, mahnte Mei.
Ning war noch nie gerne aufgestanden. Die Ironie des Schicksals machte sie missmutig. Ihr Ausgangspunkt war ein enges, lärmiges Wohnheim in Dandong gewesen. Sie hatte ihr Leben dafür riskiert, auf die andere Seite der Welt zu gelangen, und war in einem unbekannten Teil von Großbritannien gelandet, wo sie etwas noch Nutzloseres tat, als zur Schule zu gehen, und in einem engen Zimmer wohnte, das schlimmer war als das, aus dem sie anfangs geflüchtet war.
»Du schläfst ja wie eine Tote«, sagte Mei, als Ning sich die Augen rieb.
Ning mochte Mei und lächelte sie an.
»Ich fühle mich auch so. In meinen Träumen sehe ich nur noch Krabbenmayonnaise und Brotscheiben.«
»Wie geht es deiner Hand?«
Ning hatte schon vergessen, dass sie sich an einem Fleischschneider verletzt hatte. Die Wunde am Handrücken brannte ein wenig, und das Blut war durch das grellgrüne Pflaster gesickert, das extra so bunt war, damit es auffiel, falls es sich ablöste und in irgendein Lunchpaket geriet.
»Sieht schlimmer aus, als es ist«, fand Ning und bewegte prüfend alle Finger. »Ich versuche mal, in die Dusche zu kommen.«
»Viel Glück«, wünschte Mei.
Wegen der Arbeiterknappheit wohnten im Moment nur zweiundzwanzig Frauen im Haus, doch für eine winzige Toilette im Keller und ein kleines Bad mit Dusche im ersten Stock waren es immer noch zu viele.
Im Nachthemd tapste Ning nach oben, das Handtuch über die Schulter geworfen. An der Badezimmertür gab es keinen Riegel, da die Frauen üblicherweise auf die Toilette gingen, während jemand anderes duschte, oder umgekehrt.
Dampf und Rauch schlugen ihr entgegen, als sie die Tür aufmachte. Die vier Frauen, die im größten Raum oben schliefen, hatten sich
Weitere Kostenlose Bücher