Top Secret - Der Verdacht
James.
»Lass uns den kleinen Scheißer fesseln«, schlug Bruce begeistert vor. »Ich schätze, wenn er hier draußen erst mal ein paar Stunden rumgehangen hat, wird er uns mehr Respekt erweisen.«
»Bitte!«, schluchzte Kevin. James sah seinen verzweifelten Gesichtsausdruck und neue Tränen in seinen Augen.
Er stellte fest, dass er die ganze Sache hasste. »Willst du durch die Grundausbildung kommen?«, fragte er und starrte Kevin an.
»Ja«, schniefte der.
»Und wenn du die Höhenhindernisse nicht schaffst, wirst du es nicht packen, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ich soll dir helfen, diese Furcht zu überwinden«, erklärte James. »Ich weiß, dass es funktioniert, weil ich mal in genau der gleichen Lage war wie du, klar?«
Kevin nickte.
»Also schwing deinen kleinen Hintern aus dem Dreck, dann helfen wir dir da durch.«
James zog sich mit Hilfe eines tief hängenden Astes hoch, während Bruce Kevin aus dem Dreck zerrte. »Du kannst von Glück sagen, dass James dich vor mir erwischt hat. Hättest du mich mit diesem Prügel geschlagen, würdest du jetzt kopfüber daran vom Baum hängen!«
*
Lauren hatte in Brighton einen etwas ruhigeren Abend. Nachdem Anna aus der Schule gekommen war und sich umgezogen hatte, saß sie still am Schreibtisch und machte ihre Hausaufgaben. Es waren hauptsächlich Englischübungen, die ihr ein Nachhilfelehrer aufgegeben hatte.
Nach einem Abendessen, das in der Hauptküche des Aldrington Care Centre zubereitet worden war, gingen die Mädchen wieder auf ihr Zimmer und unterhielten sich, während sie fernsahen und Karten spielten. Das Gespräch bewegte sich von Banalem wie Popmusik und Jungen, die ihnen gefielen, hin zu Dingen aus ihrer Vergangenheit.
Anna erzählte offen lustige Sachen, die sie in russischen Schulen erlebt hatte, und Geschichten aus der Zeitung, aber sobald es um bestimmte Details ihrer Vergangenheit ging, wurde sie sehr verschlossen. Sie bestätigte nur, dass die beiden auf dem Bild an ihrem Bettpfosten ihre Mutter und ihr kleiner Bruder Georgy waren.
Alle Versuche, herauszufinden, wo Anna in Russland gelebt hatte oder wie sie nach Großbritannien gekommen war, wurden ignoriert oder mit einem raschen Themenwechsel beiseitegeschoben, und Fragen nach ihrer Mutter riefen bei Anna einen gequälten Gesichtsausdruck hervor, der vermuten ließ, dass sie den Tränen nahe war.
Lauren war sich nicht sicher, woher Annas Weigerung, zu sprechen, rührte. War es, weil sie tatsächlich traumatisiert war? Oder gehörte es zu einem sorgfältig aufgebauten Schutzschild, der sie davor bewahren sollte, nach Russland zurückgeschickt zu werden? Doch schon nach ein paar Stunden mit Anna war Lauren klar, dass ihre junge Gefährtin äußerst intelligent war.
Die beiden Mädchen blieben lange auf, um sich einen Film im Fernsehen anzusehen. Etwa eine halbe Stunde, nachdem sie sich schlafen gelegt und das Licht gelöscht hatten, stand Anna wieder auf, stieg die Leiter an Laurens Bett hinauf und flüsterte: »Bist du wach?«
Lauren öffnete ein Auge und wollte schon antworten, doch etwas an Annas Tonfall kam ihr verdächtig vor. Sie schloss das Auge wieder und hörte, wie Anna die Leiter hinunterstieg und sich auf Laurens Zimmerseite schlich.
Dort nahm sie etwas von Laurens Schreibtisch, und diese erkannte das Geräusch, wie ihr Handy aufgeklappt wurde. Anna huschte zum Bad. Lauren bekam Angst. Die Mission war in aller Eile vorbereitet worden, und sie hatte zwar eine neue SIM -Karte für ihr Handy bekommen, aber sie hatte noch nicht alle Nachrichten gelöscht, und auf dem Telefonspeicher waren noch die Fotos und Videos von James’ Geburtstagswochenende. Wenn Anna die sah, war ihre Tarnung futsch.
»Hrhm«, räusperte sie sich und schaltete die Lampe an, die am Metallrahmen ihres Bettes klemmte.
Anna erstarrte wie ein Kaninchen im Scheinwerferkegel eines Autos.
»Brauchst du mein Telefon?«, fragte Lauren.
»Nein, nein.« Anna lächelte verlegen, als sich Lauren aus dem Bett rollte und barfuß auf den Teppich sprang.
Es war in gewisser Weise jammerschade: Lauren war klar, dass Annas Anruf ihr einen Hinweis auf ihre Identität hätte geben können. Doch sie konnte es nicht riskieren, dass das Mädchen die Bilder und Videos entdeckte.
»Du kannst es gerne benutzen«, sagte sie und hielt ihr das Handy hin. »Solange du nicht stundenlang redest und meine ganze Karte verquasselst.«
Aber Anna schüttelte den Kopf und lehnte verlegen ab. »Wen sollte ich denn anrufen? Ich wollte es mir
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