TOP SECRET - Die Sekte
»Jemand, der in einen Aufzug steigt, stellt sich immer mit dem Gesicht zur Tür, damit er sehen kann, was vor sich geht, und weiß, wann er aussteigen muss. Aber was passiert, wenn beim Einsteigen bereits mehrere Leute im Aufzug sind, die in die andere Richtung schauen?«
»Oh, jetzt, wo du es sagst, fällt mir ein, dass ich das schon einmal gesehen habe«, warf Abigail ein. »Wenn die anderen Leute im Lift alle mit dem Rücken zur Tür stehen, wird der Neuankömmling sich für gewöhnlich auch so hinstellen.«
»Genau«, bestätigte Miriam. »Die Menschen glauben, einen freien Willen zu haben, aber tatsächlich hat ein Individuum die starke Neigung, sich genau so zu verhalten wie die anderen in seiner Umgebung.«
»Wie Cliquendruck in der Schule«, meinte Lauren. Miriam nickte. »Das ist ein sehr gutes Beispiel, Lauren. Wenn du in der Schule bist und alle deine Freunde Zigaretten rauchen, dann wirst du wahrscheinlich
ebenfalls mit dem Rauchen anfangen. Ich war auch schon einmal in dieser Sporthalle, wo ihr gestern wart. Könnt ihr euch an das große Banner an der Rückseite erinnern?«
» Willkommen im Ozean der Liebe «, zitierte James.
»Stimmt, und ich fürchte, du und Lauren, ihr habt unabsichtlich eure Zehen in diesen Ozean gesteckt. Ich nehme an, die Survivors haben euch gebeten, vorher anzurufen und Bescheid zu sagen, ob ihr kommt?«
Abigail nickte.
»So konnten sie ein Willkommenskomitee aufstellen. Wenn ihr ankommt, werdet ihr alle von einer freundlichen Person begrüßt. Sie bringen euch hinein, trennen euch, und alle sind nett und freundlich. Sie haben euch gebeten, euch sportlich zu betätigen, weil es euch müde macht. Aber die ganze Zeit über haben sie euch mit Komplimenten und Berührungen emotional wieder aufgebaut.«
»Wir durften während des Spiels nichts Negatives sagen«, erklärte James.
Wieder nickte Miriam. »Diese Technik nennt man Gedankenstopp . Wenn man dich auffordert, nur positive Dinge zu denken und zu sagen, fühlst du dich unweigerlich gut. Und weil du auch von anderen nur Positives hörst, beginnst du, dich schuldig zu fühlen und negative Gedanken zu unterdrücken. Die gute Stimmung wird durch viele Umarmungen, Berührungen und gelegentlich sogar Küsse verstärkt. Nach ein paar Stunden wart ihr beide erschöpft, aber glücklich und gelöst.
Und das ist genau die Stimmung, in der jemand sein sollte, dem ihr etwas verkaufen wollt, sei es nun ein Gebrauchtwagen oder eine lebenslange Mitgliedschaft in einer religiösen Sekte.«
James und Lauren verstanden.
»Jetzt, wo Sie es sagen, macht das Sinn«, meinte James. »Aber ich hatte in dem Moment nicht das Gefühl, dass irgendetwas Besonderes mit mir geschieht.«
»Das soll es ja auch nicht«, erwiderte Miriam. »Wenn Leute Begriffe wie Gehirnwäsche oder Kontrolle hören, dann stellen sie sich vor, dass man in einem Zimmer sitzt mit einer Waffe an der Schläfe, oder dass man sich gefesselt irgendwelche Videos ansehen muss, während einem die Augenlider mit Streichhölzern offen gehalten werden. Doch so drastische Methoden werden nur Furcht und Widerstand wecken. Die Techniken, die Gruppen wie die Survivors anwenden, sind wesentlich subtiler und deswegen auch viel wirksamer.«
Abigail wirkte besorgt. »Die Sache ist nur die: Können wir die Kinder ruhigen Gewissens undercover in diese Umgebung schicken? Sie hatten in Büchern über Gehirnwäsche gelesen und es hat das Gespräch mit Ihnen gegeben, und trotzdem sind James und Lauren aus dem Gemeindezentrum herausgekommen wie grinsende Zombies.«
Miriam runzelte die Stirn und dachte einen Moment nach. »Die Forschung hat gezeigt, dass Leute, die wissen, wie Gehirnwäsche funktioniert, normalerweise resistent dagegen sind.«
»Aber wir wissen es doch!«, warf James verzweifelt ein.
»Nein«, widersprach Miriam. »Du hast darüber in Büchern gelesen und mir zugehört, aber du hast das, was du gelernt hast, nicht beherzigt. Du bist ins Gemeindezentrum gegangen, ohne dich zu wappnen, und hast dich von ein paar hübschen Mädchen einwickeln lassen, die dir gesagt haben, was für ein toller Kerl du bist.«
James starrte verlegen auf den Betonfußboden zwischen seinen Nikes.
»Es tut mir leid«, sagte Lauren. »Wir wollten es nicht vermasseln.«
»Sei nicht dumm, Süße«, entgegnete Miriam freundlich. »Es haben schon ältere und erfahrenere Leute als ihr gedacht, sie seien zu schlau, um einer Sekte in die Hände zu fallen. Hoffentlich ist euch das eine Lehre gewesen.
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