Topchter der Köingin Tess 1
schlich ich voran. Die Ranken wilder Beeren verfingen sich in meinem Rock und meinem Haar, und die Stiche spitzer Dornen fühlten sich an wie vorwurfsvolle Ermahnungen wegen meiner Spitzelei. Ich unterdrückte einen Aufschrei, als mir der Ärmel aufgerissen wurde und ein Dorn einen langen Kratzer an meinem Arm hinterließ. Ich strich unwillkürlich mit der Hand darüber, doch dann ließ mich eine Bewegung erstarren.
Ich schob einen Zweig beiseite und spähte durch die Blätter. Meine Augen wurden schmal. Eine junge Frau saß auf einem Baumstamm an einem Feuer, unter einem dicken Wollumhang zusammengekauert. Sie hatte die Arme um sich geschlungen, als friere sie, und sie wirkte verloren. Und sie war sehr schön.
Im Sitzen streiften die Spitzen ihres langen blonden Haars den Boden. Es war so glatt wie meines lockig. Ihre Haut war sonnenhungrig bleich, meine hingegen gebräunt. Sie sah aus, als tauge sie zu nichts Nützlichem, und sie hatte üppige Kurven, wo bei mir nur Andeutungen davon waren. Sie lächelte zu dem gedrungenen, kräftig gebauten jungen Mann auf, der ihr eine Decke um die Schultern legte, und in diesem Augenblick hasste ich sie. Ich war keine Prinzessin. Das ist eine Prinzessin, dachte ich und wischte mir mit dem Handrücken die Nase. Ich war sehr dumm gewesen, dass ich mich je für eine Prinzessin gehalten hatte.
Der »Ziegenhirte« hockte sich neben sie und stocherte im Feuer. Er war viel zu muskulös, um einen Funken Verstand zu haben. Seine Füße waren nackt, und mit seinen breiten Schultern und stämmigen Beinen sah er aus, als könne die Kälte ihm nichts anhaben. Ich runzelte die Stirn, als er sich die schwarzen Strähnen aus dem Gesicht strich.
Abseits des Pfades in den tiefen Schatten stand ein schmaler Wagen mit einer Kiste von der Größe eines Sarges darauf. Er wurde offenbar von nur einem Pferd gezogen. Das Tier war gewaltig und sah aus, als hätte es schon an dem Tag Baumstümpfe aus dem Boden gezogen, da es zum ersten Mal bei seiner Mutter getrunken hatte. Kein Wunder, dass sie so unendlich langsam vorankamen.
Meine Aufmerksamkeit kehrte zu den beiden zurück, als der Mann leise etwas sagte und sie daraufhin lächelte. Zorn flammte in mir auf. Wo war sie gewesen, als Vater von einem Schwert durchbohrt worden war? Als Mutters Blut meine Finger befleckt hatte? Ich war ihre Tochter, nicht die da!
Ich beobachtete, wie sie einen Kamm aus einem kleinen Beutelchen nahm und sich das Haar kämmte. Irgendetwas an ihrer Haltung und der Biegung ihres Halses kam mir bekannt vor. Der Schock ging mir durch und durch, als ich erkannte, dass die Statuen im Wintergarten sie darstellten. Die wunderschönen Statuen – das war sie!
Der Ziegenhirte beugte sich zu ihr herab und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Möchtest du noch eine Decke, Contessa?«, fragte er mit gedehnter, ländlicher Aussprache.
Es verschlug mir den Atem. Sie hatte mir meine Zukunft genommen und meine Eltern. Wie konnte sie es wagen, sich auch noch meinen Namen zu nehmen?
Mir drehte sich der Magen um, und ich stand auf. Dornen verfingen sich in meinen Röcken, und die leisen Geräusche, mit denen der Stoff zerriss, fachten meinen Ärger zusätzlich an. »Das ist mein Name«, sagte ich leise.
Der Ziegenhirte fuhr mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund herum.
Die Prinzessin stand auf und ließ die Decke fallen, die beinahe Feuer fing. »Du … bist es!«, rief sie aus und fuhr sich mit einer schwächlich wirkenden Hand an die Kehle. »Du bist sie!« Sie zögerte, und meine Wangen brannten, weil sie mich von Kopf bis Fuß musterte, während ich zerkratzt und in schmutziger Reisekleidung vor ihr stand. Ich straffte die Schultern und weigerte mich, mein Haar oder das Kleid zu berühren und glatt zu streichen. »Was willst du hier?«, fragte sie und versuchte sich an einer vornehmen Aussprache, durch die aber der gedehnte Provinzakzent herausklang. »Du solltest doch im Palast sein.«
Mein Atem strömte mit einem schaudernden Stöhnen aus meiner Kehle, so zornig war ich. »Es steht dir nicht zu, mir solche Fragen zu stellen«, flüsterte ich und nahm jedes Quäntchen hart erarbeiteter Contenance zusammen, um sie nicht anzuschreien.
Die Prinzessin schürzte die Lippen und reckte das Kinn. »Ich bin die Prinzessin, nicht du. Ich kann dich fragen, was ich will. Warum bist du nicht im Palast?«
Meine Hände zitterten. Ich trat einen Schritt auf sie zu, der jedoch wegen der Dornen nicht so anmutig ausfiel, wie ich
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