Tor der Daemmerung
Oder vielleicht war dieser mimosenhafte Mensch auch einfach der Meinung, seine Anweisungen müssten nicht weiter erklärt werden. Aber zumindest wurde jetzt nachvollziehbar, warum er darauf bestand, sofort den Fluss zu überqueren.
Verseuchte fürchten tiefes oder schnell fließendes Wasser , hatte Kanin mir damals im Krankenhaus erklärt. Niemand weiß, warum das so ist – immerhin besteht ja nicht die Gefahr, dass sie ertrinken könnten. Vielleicht verstehen sie einfach nicht, warum der Boden sie nicht mehr trägt. Oder sie fürchten alles, was mächtiger ist als sie. Aber schon seit ihrer Entstehung halten sich Verseuchte von tiefen Gewässern fern. Vergiss das nicht, vielleicht rettet es dir eines Tages das Leben.
Zeke stapfte durch den Schlamm und schleppte das Seil zu einem dicken Baumstamm am Ufer. Ich rannte zu ihm.
»Wie sollen wir da rüber kommen?«, fragte ich, während er das eine Ende des Taus mehrmals um den Stamm schlang und fest verknotete. Mit einem kläglichen Lächeln hob er den Rest des Seils in die Höhe.
»Wir halten uns so gut wie möglich hieran fest.«
»Und wie?«, hakte ich mit Blick auf den Baum nach. »Das Seil befindet sich auf dieser Seite des Flusses, es hilft uns also kein Stück, bis es nicht am anderen Ufer ist.«
»Ganz genau.« Seufzend band sich Zeke das andere Ende um den Bauch. Schockiert starrte ich ihn an, was er mit einer Grimasse beantwortete. »Diesmal bin ich wenigstens schon nass.«
Wieder starrte ich auf das schäumende, tosende Wasser und schüttelte den Kopf. »Ist das nicht ein bisschen … gefährlich?«
»Allerdings.« Zeke sah mir offen in die Augen. »Aber Jake kann nicht schwimmen, und ich würde nie von Darren verlangen, dass er ein solches Risiko eingeht. Oder von sonst jemandem, wenn wir schon dabei sind. Also bleibe nur ich.«
Bevor mir eine passende Antwort einfiel, hatte er bereits Stiefel und Jacke ausgezogen. Er stellte beides ordentlich an der Uferböschung ab und kletterte unter den Blicken der gesamten Gruppe rutschend den schlammigen Abhang hinunter, bis er direkt am Wasser stand. Mit einem schnellen Blick in beide Richtungen versuchte er, die Strömung einzuschätzen, dann sprang er in die aufgewühlten Fluten.
Im nächsten Moment erfasste ihn die Strömung, aber er schwamm unermüdlich gegen den Sog an und nahm Kurs auf das andere Ufer. Ich beobachtete, wie sein blasser Körper an der Oberfläche trieb und immer wieder in die Tiefe gezogen wurde. Jedes Mal, wenn er unterging, biss ich mir auf die Lippen und ballte krampfhaft die Fäuste, bis sein Kopf wieder über den Wellen auftauchte. Er war ein wirklich guter Schwimmer, trotzdem dauerte es einige Minuten, in denen ich vor Anspannung fast das Atmen vergaß, bis er keuchend und tropfend am anderen Ufer aus dem Wasser kletterte. Während unsere Gruppe in laute Jubelrufe ausbrach, taumelte Zeke zu einem Baum, band das Seil am Stamm fest und ließ sich dann offenbar völlig erschöpft in den Schlamm fallen.
Als die Gruppenmitglieder sich bereit machten, rappelte er sich dennoch wieder hoch, damit er denjenigen ans Ufer helfen konnte, die es bis nach drüben schafften. Ich hielt mich im Hintergrund und sah zu, wie Ruth als Erste ins Wasser ging, höchstwahrscheinlich, um so schnell wie möglich wieder bei Zeke sein zu können. Nach ihr bahnten sich Silas und Teresa mit quälender Langsamkeit einen Weg ans andere Ufer. Zentimeterweise schoben sie sich voran und umklammerten mit ihren knochigen Fingern das Seil.
Dann drehte sich Darren zu mir um.
»Du bist dran, Allison«, befahl er und streckte mir hilfsbereit eine Hand entgegen. Mein Blick wanderte zu den drei Kleinen – Caleb, Bethany und Matthew –, die sich im Regen aneinanderdrängten.
»Was ist mit ihnen?«
»Zeke kommt gleich zurück und hilft«, versicherte mir Darren. »Er bringt entweder Bethany oder Caleb rüber, ich schnappe mir den jeweils anderen, und Jake kümmert sich um Matthew. Keine Sorge, das ist nicht der erste Fluss, den wir überqueren. Und ich bin ja ganz dicht hinter dir.« Grinsend schob er mich Richtung Wasser. »Aber wenn du Hilfe brauchst, kann ich dich auch gerne Huckepack nehmen.«
»Nein danke.« Ich ignorierte seine hilfreiche Hand und schob mich vorsichtig zum Seil hinunter. »Ich denke, ich komme alleine klar.«
Das Wasser hätte mich fast umgehauen – nicht wegen der eisigen Kälte, denn das machte mir natürlich nichts aus, sondern wegen der beeindruckenden Kraft der Strömung, die mich unter
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