Tor der Daemmerung
Sterne komplett verschwanden. Der Wind frischte auf und Blitze zuckten wie grelle, weiße Streifen durch die Wolkendecke, gefolgt von dröhnendem Donner.
Dann kam der Regen, wahre Sturzbäche, die uns ins Gesicht peitschten, jeden Zentimeter nackte Haut trafen und alles in kürzester Zeit durchnässten. Die Menschen bewegten sich nur noch im Kriechtempo vorwärts, ließen die Köpfe hängen und stemmten sich mit gebeugten Schultern gegen den Wind. Ich ließ mich zurückfallen und wartete auf Nachzügler. Die anderen sollten nicht sehen, dass der Regen mir nichts ausmachte, die Kälte bei mir keine Gänsehaut auslöste und ich trotz Wind nicht zitterte. Bald war der Boden der reinste Sumpf und ich sah, wie Zeke Caleb und Bethany hinter sich herzog und sie an den schlimmsten Stellen auf seinem Rücken durch den tiefen Schlamm trug. Die Kinder bibberten und Bethany begann sogar zu weinen, als sie in eine tiefe Pfütze fiel, aber Jeb drosselte nicht einmal das Marschtempo.
Immer weiter prasselte der Regen herab. Wenige Stunden vor Sonnenaufgang mischte sich ein weiteres Geräusch in das ewige Rauschen. Ein leises Dröhnen, das zunehmend lauter wurde, bis wir schließlich an einen Abhang kamen und am Ufer eines dunklen, schäumenden Flusses standen.
Jebbadiah blieb mit verschränkten Armen stehen und starrte mit verkniffenem Mund auf das Wasser. Dann drehte er sich um und winkte Zeke zu sich, woraufhin ich mich vorsichtig anschlich, um sie trotz des brüllenden Wassers belauschen zu können.
»Hol das Seil raus«, befahl Jeb und zeigte auf Zekes Rucksack.
»Sir?«
Stirnrunzelnd wandte Jeb sich ab und musterte wieder den Fluss. »Sie sollen sich alle bereithalten. Wir gehen da rüber.«
Ich schob mich noch ein paar Schritte vorwärts. Zeke zögerte und beobachtete besorgt den reißenden Strom. »Meinst du nicht, wir sollten es für heute gut sein lassen?«, fragte er. »Und warten, bis das Wasser etwas zurückgegangen ist? Die Strömung ist für die Kinder sicher zu stark.«
»Dann sorge dafür, dass ihnen jemand hilft.« Jebs Stimme war ruhig, aber gnadenlos. »Wir müssen auf die andere Seite, noch heute Nacht.«
»Sir …«
»Ezekiel«, unterbrach ihn Jeb und drehte sich warnend zu seinem Adoptivsohn um. »Zwing mich nicht, es noch einmal zu sagen.« Zeke hielt seinem Blick für einen Moment stand, dann sah er zu Boden.
»Kümmere dich darum, dass alle so schnell wie möglich bereit sind«, fuhr Jebbadiah in völlig normalem Ton fort, sodass ich ihm am liebsten eine verpasst hätte. »Sobald wir den Fluss überquert haben, können wir rasten. Aber vorher will ich, dass wir sicher ans andere Ufer kommen.«
Zeke nickte widerwillig. »Jawohl, Sir.«
Während Zeke ein paar Schritte zurücktrat und seinen Rucksack abstreifte, wandte Jeb sich ab und starrte erneut auf das Wasser. Sein Blick ruhte auf etwas, das ich nicht sehen konnte, irgendwo unten am Ufer, und seine zusammengepressten Lippen wurden noch schmaler.
Ich wartete ab, bis er zur Gruppe zurückgekehrt war, wo Zeke und Darren inzwischen angefangen hatten, ein langes Seil zu entrollen, dann lief ich die Uferböschung hinunter und sah mich um.
Das dunkle Wasser rauschte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vorbei. Was dachte sich Jeb nur dabei? War er wirklich so stur und herzlos, uns da durchzutreiben? Vor allem mit den Kindern?
Im grellen Licht eines Blitzes spiegelten sich plötzlich zwei tote, weiße Augen.
Ich fuhr herum und starrte den Felsen an, der ein Stück flussabwärts am Ufer lag. Doch nun erkannte ich, dass es gar kein Felsbrocken war, sondern eines dieser wuchtigen, gehörnten Kreaturen, die in großen Herden über die Ebenen zogen. Das aufgedunsene Tier war ganz offensichtlich tot, es lag reglos auf der Seite, doch sein Maul war zu einer gruseligen Fratze verzogen und die riesigen, weißen Augen traten aus den Höhlen. In diesem Moment drehte der Wind und trieb über das Wasser hinweg den Gestank nach Verwesung zu mir herüber – und nach dieser unverwechselbaren Falschheit .
Mir drehte sich der Magen um. Schnell rannte ich zu Darren und Zeke, um ihnen mit dem Seil zu helfen. Jeb ist also gar nicht so ein mieser Dreckskerl, gut zu wissen. Allerdings fragte ich mich, warum er nicht wenigstens Zeke darüber aufklärte, dass es hier womöglich Verseuchte gab. Diese Information wäre für seinen Stellvertreter doch sicher nützlich gewesen. Vielleicht wollte er ja verhindern, dass es sich herumsprach und die Gruppe in Panik geriet.
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