Tor der Daemmerung
uns einen Schrei und irgendjemand auf der Mauer leuchtete mir mit einer Taschenlampe direkt in die Augen. Als Joe zurückbrüllte und mit den Armen wedelte, verschwand der Lichtstrahl. Wenige Minuten später hörten wir das Ächzen von verrostetem Metall, ein Tor wurde geöffnet und zwei Männer und eine Frau rannten auf uns zu.
Reflexartig – und aufgrund der Tatsache, dass der jüngere der Männer ein Gewehr dabei hatte – verkrampfte ich mich, obwohl die Waffe nicht auf uns gerichtet war. Der andere Mann war schlaksig und knochig, aber mein Hauptaugenmerk galt der Frau. Sie hatte braune Haare, die sie in einem Pferdeschwanz trug, und obwohl sie nicht besonders alt zu sein schien, leuchteten an ihren Schläfen ein paar graue Strähnen. Früher war sie vielleicht einmal hübsch gewesen, doch nun durchzogen tiefe Falten ihr Gesicht und ihr Mund wirkte verkniffen. An ihrem Blick ließ sich ohne jeden Zweifel ablesen, dass sie hier das Sagen hatte.
»Joe!«, schrie die Frau, während sie auf uns zustürmte. »Gott sei Dank! Wir dachten schon, du wärst tot.« Trotz der besorgten Worte sah sie so aus, als hätte sie ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst, wäre er nicht so stark verletzt gewesen. »Was hast du dir nur dabei gedacht , einfach ganz allein in den Wald zu gehen, du verdammter Narr? Ach, egal, ich will es gar nicht wissen. Ich bin nur froh, dass du wieder da bist. Und wie ich sehe«, plötzlich ruhten ihre schlauen braunen Augen auf mir, »habe ich es ein paar Fremden zu verdanken, dass du sicher zu uns zurückgekehrt bist.«
»Sei nett zu ihnen, Patricia«, stöhnte Joe und rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Sie haben mir das Leben gerettet. Haben ohne mit der Wimper zu zucken ein verseuchtes Wildschwein getötet – so etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Tatsächlich?«, fuhr die Frau kühl fort, während die beiden Männer Joe übernahmen und mit ihm zur Festung stolperten. »Was du nicht sagst. Nun ja, die Wege des Herrn sind unergründlich.« Sie fixierte uns mit einem scharfen, unerbittlichen Blick. »Mein Name ist Patricia Archer«, stellte sie sich dann brüsk vor. »Ich weiß zwar nicht, wer ihr zwei seid, aber hier ist jeder willkommen, der sich um die Meinen kümmert.«
»Danke«, antwortete Zeke ernst. »Ich bin Zeke und das ist Allison.«
»Freut mich.« Patricia beugte sich vor und musterte uns konzentriert. »Lasst euch ansehen – meine Augen sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Gütiger Gott, seid ihr jung. Wie alt bist du, Jungchen? Siebzehn, achtzehn?«
»Siebzehn«, bestätigte Zeke, »glaube ich.«
»Tja, ihr hattet jedenfalls enormes Glück, dass ihr keine Verseuchten aufgeschreckt habt, während ihr allein im Wald herumgestreunt seid. Hier in der Gegend sind sie eine echte Plage.«
Eine Plage? , dachte ich. So wie Waschbären oder Ratten? Dieses verseuchte Schwein hätte dem Mann fast das Bein abgerissen.
»Was macht ihr denn überhaupt hier draußen?«, wollte Patricia wissen und klang dabei weder wachsam noch misstrauisch. Offenbar war sie einfach nur neugierig. »Ihr beiden könntet fast meine Enkel sein. Ach, ist ja auch egal.« Mit einer energischen Geste winkte sie ab. »Sei nicht immer so neugierig, Patricia. Gehen wir rein, bevor wir noch Verseuchte anlocken. Ich bestehe darauf, dass ihr etwas esst und dann schlaft. Wir haben einige leer stehende Zimmer. Und wir können auch etwas Wasser heiß machen für ein Bad. Ihr seht so aus, als könntet ihr das gebrauchen.«
Ein heißes Bad war ein Luxus, von dem ich im Saum nur träumen konnte. Die Leute hatten immer behauptet, es gäbe Maschinen, die das Wasser auf jede beliebige Temperatur erwärmten. Selbst gesehen hatte ich so etwas nie. Aber Zeke schüttelte ablehnend den Kopf.
»Vielen Dank, das ist sehr freundlich«, sagte er artig, »aber wir sollten jetzt gehen. Im Wald warten unsere Leute auf uns.«
»Wie, es gibt noch mehr von euch?« Überrascht blickte Patricia zu den Bäumen hinüber. »Meine Güte, Jungchen, die können doch nicht da draußen bleiben! David, Larry!«, rief sie und winkte zwei Männern zu, ans Tor hinunterzukommen. »Draußen im Wald sind noch mehr Menschen«, verkündete sie streng, als die beiden mit Gewehren bewaffnet zu uns rauskamen. »Sobald die Sonne aufgeht, sucht ihr sie und bringt sie her. Eigentlich könntet ihr auch Adam und Virgil wecken, die sollen euch helfen.«
»Das ist wirklich nicht nötig …«, setzte Zeke an, aber sie fiel ihm gebieterisch ins Wort: »Still,
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