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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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keinem der vielen Familienmitglieder begegnet waren. Letzte Nacht hatte Patricia uns stolz erklärt, dass hier drei Generationen von Archers unter einem Dach lebten: Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Schwiegerkinder, Großmütter und Großväter – eben der gesamte Familienstammbaum. Als ich Patricia ins Haus gefolgt war, hatte ich gesehen, wie sich mindestens ein Dutzend Leute um Joe gekümmert hatten, und war außerdem davon ausgegangen, dass noch einige in ihren Zimmern waren und schliefen. Wo steckten sie jetzt? Aus der Küche hörte man Gepolter, aber ansonsten herrschte in dem großen Haus absolute Stille.
    Zeke zuckte mit den Schultern. »Ich denke, die meisten werden draußen sein und sich um die Tiere kümmern, auf dem Feld arbeiten und die Mauer bewachen. Martha hat mir erzählt, dass sie tagsüber Ziegen und Schafe auf der Wiese halten, aber nachts müssen sie reingebracht werden. Sonst würden die Verseuchten sich die Tiere schnappen.«
    »Zeke?« Aus der Küche drang eine schwache, aber durchdringende Stimme herüber. »Bist du das?«
    Zeke verzog das Gesicht, drückte sich an die Wand, bis die Schatten ihn verschluckten, und blies seine Kerze aus. Im selben Moment kam eine alte, weißhaarige Frau aus der Küche. Sie hielt eine Bratpfanne in der knochigen Hand. Als sie mich sah, blinzelte sie verwirrt. Die dicken Brillengläser und der zahnlose Mund ließen sie aussehen wie eine Eidechse.
    »Oh«, sagte sie offensichtlich enttäuscht. »Du bist das. Das Mädchen.«
    »Allison«, stellte ich mich vor.
    »Ja, natürlich.« Martha sah mich nicht einmal mehr an, sondern suchte mit ihren wässrigen Augen das Zimmer ab. »Ich dachte, ich hätte den Jungen gehört. Ist Zeke bei dir?«
    »Nein«, sagte ich bestimmt und vermied angestrengt jeden Blick in die Ecke, in der Zeke stand und hektisch den Kopf schüttelte. »Ich habe ihn nicht gesehen.«
    »Oh, schade.« Martha seufzte schwer. »Dann muss er wohl bei den anderen in der Scheune sein. So ein hübscher Junge.« Sie verzog die Nase, kniff die Augen zusammen und starrte prüfend durch ihre dicke Brille. »Oh, gut, du hast deine Sachen gefunden. Ich wollte dir ja sagen, dass ich sie gewaschen habe, aber du hast so fest geschlafen, dass ich dich gar nicht wach gekriegt habe. Du schläfst wie eine Tote!«
    »Ich weiß.« Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen. Oh ja, beim nächsten Mal werde ich die Tür ganz bestimmt abschließen. Oder ich nagele das verdammte Ding einfach zu. »Ich war wohl sehr müde. Wir, also unsere Gruppe, wir schlafen tagsüber und reisen nachts. Deswegen bin ich es nicht gewöhnt, nachmittags wach zu sein.«
    »Schlaf ist eine gute Sache.« Martha neigte weise das runzelige Haupt. »Aber du warst völlig weggetreten, Mädchen.« Ich wollte schon zu einer Antwort ansetzen, aber da Zeke nicht hier war, schien sie das Interesse an mir zu verlieren. »Wenn du den Jungen siehst, richte ihm aus, dass ich extra für ihn einen Kuchen backe. Jungs lieben Kuchen. In einer Stunde gibt es Abendessen. Sag das deinen Leuten.«
    »Wird gemacht«, murmelte ich, während sie bereits in die Küche zurückkehrte. Unsicher sah ich zu Zeke hinüber. Hoffentlich hatte er nicht bemerkt, wie nervös ich geworden war. Doch er zuckte nur mit den Schultern, woraufhin ich spöttisch eine Augenbraue hochzog.
    »Der große Jäger«, stichelte ich, als wir uns durch die Hintertür davonschlichen und auf den Hof hinausgingen. »Mit fiesen Verseuchten und durchgedrehten Wildschweinen nimmt er es jederzeit auf, aber vor einer kleinen, alten Dame ergreift er ängstlich die Flucht.«
    »Einer gruseligen alten Dame«, korrigierte er mich. Offenbar war er erleichtert, aus dem Haus rauszukommen. »Du hast ja nicht gehört, was sie zu mir gesagt hat, als ich aufgestanden bin: ›Du bist so süß, dass ich Kuchen aus dir machen könnte.‹ Mal ehrlich, etwas Gruseligeres ist dir doch auch noch nicht untergekommen, oder?« Er schraubte seine Stimme um ein paar Oktaven rauf, sodass sie schrill und atemlos klang. »Unser heutiges Dessert: Apfelkuchen, Blaubeertorte und Ezekielschnitten.«
    Wir lachten so laut, dass es von den Hauswänden widerhallte. Die Luft hier draußen war kühl und diesig, und als ich tief einatmete, roch ich Rauch, Erde, Vieh und Dünger. Trotz der Mischung war es irgendwie ein sauberer Geruch, reiner als der im Saum und den Straßen der Stadt. Auf dem Hof liefen Hühner herum, die uns hektisch auswichen, und von einem

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