Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
Vom Netzwerk:
hatte ihn grün und blau geschlagen und die Gruppe übernommen. Seitdem hatte ihn nie jemand herausgefordert. Er war immer fair: Priorität Nummer eins war bei ihm stets das Überleben, unabhängig von seinem eigenen Empfinden. Er hatte genau wie ich mit angesehen, wie Gruppenmitglieder durch Hunger, Kälte, Krankheit oder Verletzungen gestorben oder einfach spurlos verschwunden waren. Wir hatten mehr »Freunde« verloren als einem Menschen zuzumuten wäre. Manchmal musste Lucas harte, unpopuläre Entscheidungen treffen, und ich beneidete ihn wirklich nicht um diesen Job, aber alles, was er tat, diente dazu, uns am Leben zu erhalten.
    Insbesondere jetzt, wo die Gruppe so klein war. Weniger Leute bedeutete zwar, dass es weniger Mäuler zu stopfen gab, aber eben auch weniger Einsatzkräfte bei der Essensbeschaffung und der Verteidigung gegen rivalisierende Gangs, falls die auf die Idee verfielen, in unser Gebiet vorzudringen. Wir waren nur zu viert: Rat, Lucas, Stick und ich. Und das reichte nicht, wenn Kyles Gang beschließen sollte, uns aus dem Weg zu räumen. Was Lucas durchaus bewusst war.
    In letzter Zeit verwirrte mich sein Verhalten. Wir waren immer gute Freunde gewesen, aber während der vergangenen Monate schien er ein neues Interesse an mir entwickelt zu haben. Vielleicht lag es daran, dass ich das einzige Mädchen in der Gruppe war, vielleicht lagen die Gründe auch woanders; ich wollte es nicht so genau wissen und würde ihn sicher nicht danach fragen. Letzten Sommer hatten wir uns einmal geküsst, von meiner Seite her aus reiner Neugier, aber Lucas hatte mehr gewollt. Da ich mir nicht sicher war, ob ich dazu schon bereit war, hielt ich ihn auf und erklärte ihm, dass ich erst darüber nachdenken müsste. Er hatte mich seither nicht weiter bedrängt, aber von diesem Tag an stand die Sache zwischen uns. Dabei war Lucas weder hässlich noch unattraktiv; ich wusste einfach generell nicht, ob ich jemandem so nah kommen wollte. Wenn er nun plötzlich verschwand, wie das so häufig geschah? Dann würde es nur noch viel mehr wehtun.
    Lucas stand reglos im Türrahmen und füllte ihn mit seinen breiten Schultern beinahe vollständig aus. Hinter ihm strömten helle Sonnenstrahlen, durch die kaputten Schulfenster herein und malten verzerrte Lichtflecke auf den Boden. Der Himmel sah so aus, als wäre es bereits früher Nachmittag. Verdammt, ich hatte viel zu lange geschlafen. Wo war Stick, und warum hatte er mich nicht geweckt?
    »Allison.« Die Erleichterung in Lucas’ Stimme war nicht zu überhören. Völlig überraschend kam er auf mich zu und zog mich in seine Arme. Ich drückte mich an ihn und spürte die harten Muskeln an seinem Rücken. Sein warmer Atem streifte meine Haut. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und lehnte mich an ihn. Es war so schön, jemanden zu haben, der zur Abwechslung einmal mir Halt gab.
    Doch dann lösten wir uns schnell wieder voneinander, um nicht von den anderen so gesehen zu werden. Es war noch zu neu für uns. »Allie«, murmelte Lucas verlegen. »Stick hat mir gesagt, dass du wieder da bist. Warst du etwa die ganze Nacht unterwegs?«
    »Ja.« Ich grinste schief. »Und was man so hört, wurde es erst spannend, nachdem ich weg war.«
    Er warf mir einen finsteren Blick zu. »Rat hat überall rumerzählt, du wärst verschleppt worden. Stick war kurz davor durchzudrehen. Ich musste beiden den Mund verbieten, sonst hätte ich ihnen noch eine verpasst.« Er musterte mich so durchdringend, dass es schon an Verzweiflung grenzte. »Wo zum Teufel warst du die ganze Nacht? Die Blutsauger haben sich überall herumgetrieben.«
    »In den Ruinen.«
    Lucas’ dunkle Augen weiteten sich. »Du warst außerhalb der Mauern? Nachts? Bist du irre, Mädchen? Willst du von Verseuchten gefressen werden, oder was?«
    »Glaub mir, es war keine Absicht, dass ich nach Sonnenuntergang dort festsaß.« Zitternd dachte ich an all das, das in diesem Schuppen beinahe passiert wäre. »Außerdem, Verseuchte hin oder her, die Entdeckung, die ich dort gemacht habe, war das alles wert.«
    »Ach ja?« Eine seiner breiten, dunklen Augenbrauen hob sich. »Lass hören.«
    »Ein ganzer Kellerraum voller Lebensmittel.« Grinsend sah ich zu, wie nun beide Brauen in die Höhe schossen. »Konservendosen, irgendwelche Kisten, Wasserkanister … Alles, was das Herz begehrt. Ganz im Ernst, Luc: Das Regal nimmt eine komplette Wand ein, alles voll mit Essen. Und niemand da, der es bewacht. Damit hätten wir monatelang

Weitere Kostenlose Bücher