Tor der Daemmerung
Ruinen«, antwortete ich, woraufhin Rat die Rucksäcke fallen ließ; in seinem Blick spiegelten sich Fassungslosigkeit und Entsetzen. »Wir gehen in die Ruinen.«
Wir teilten uns in zwei Teams auf, zum einen, um den Patrouillen besser aus dem Weg gehen zu können, die nach wie vor im Saum unterwegs waren, aber zum anderen auch, weil ich Rat vermutlich erwürgt hätte, wenn ich mir sein Gejammer darüber, dass ich uns alle umbringen würde, noch länger hätte anhören müssen. Stick war auch nicht gerade glücklich, aber wenigstens hielt er nach den ersten Proteststürmen den Mund. Letztendlich stellte Lucas Rat vor die Wahl: Entweder half er uns, oder er verzog sich und kam nie mehr zurück. Ich persönlich hatte ja gehofft, er würde sich für die zweite Möglichkeit entscheiden, uns alle verfluchen und beleidigt aus unserem Leben verschwinden, aber nach einem mörderischen Blick zu mir schnappte er sich einen der Rucksäcke und hielt endlich die Klappe.
Bevor wir uns trennten, erklärte ich Lucas, wo der Tunneleingang lag, da wir auf unterschiedlichen Wegen dorthin gehen würden, für den Fall, dass wir auf Patrouillen stießen. Die Wachen waren Straßenkindern und Unre gistrierten gegenüber alles andere als wohlwollend. Da wir offiziell nicht existierten, glaubten sie, sie könnten mit uns anstellen, was immer ihnen einfiel, inklusive Schlägen, Schießübungen und … anderen Dingen. Ich hatte so etwas oft genug erlebt. Da war es fast besser, von einem hungrigen, seelenlosen Vampir erwischt zu werden; der würde sich wahrscheinlich einfach nur auf das Blut stürzen und einen hinterher sterben lassen. Menschen waren zu viel, viel schlimmeren Dingen fähig.
Stick und ich erreichten den Graben als Erste und stiegen in den Tunnel hinab. Ich hatte die Taschenlampe zwar dabei, aber eigentlich nur für Notfälle. Das künstliche Licht wäre reiner Luxus gewesen, und ich wollte die Batterien nicht aufbrauchen, wenn es sich vermeiden ließ. In dem Sonnenlicht, das durch die Abflussgitter fiel, konnte man sowieso mehr als genug sehen.
»Rat und Lucas sollten sich besser beeilen«, murmelte ich, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte zur rissigen Decke hinauf. »Das ist eine Menge Zeug, und es wird nicht mehr lange hell sein. Ich habe wirklich keine Lust, heute das Gleiche zu erleben wie gestern.«
»Allie?«
Stick lehnte an der Wand, auf seinem Rücken hing einer der riesigen Rucksäcke. Sein Gesicht war völlig verzerrt vor Angst und er umklammerte die Schulterriemen so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Trotzdem versuchte er, tapfer zu sein, und für einen Moment fühlte ich mich schuldig. Stick hasste die Dunkelheit.
»Hältst du mich für nutzlos?«
»Geht es etwa immer noch um das, was Rat gesagt hat?« Schnaubend winkte ich ab. »Beachte ihn gar nicht. Er ist ein schmieriges kleines Wiesel und ein Sicherheitsrisiko. Lucas wird ihn wahrscheinlich sowieso bald rausschmeißen.«
»Aber er hat recht.« Ohne mir in die Augen zu sehen, trat Stick gegen einen losen Betonbrocken. »Ich bin das schwächste Glied in der Kette. Weder bin ich ein guter Dieb wie Rat, noch ein Kämpfer wie Lucas, und ich bin erst recht nicht mutig genug, um außerhalb der Mauer plündern zu gehen, so wie du. Wofür bin ich denn schon gut, wenn ich nicht einmal auf mich selbst aufpassen kann?«
Unangenehm berührt zuckte ich mit den Schultern. »Was soll ich sagen?«, erwiderte ich in schärferem Ton als beabsichtigt. Vielleicht lag es am Streit mit Rat, oder ich war noch angespannt wegen vergangener Nacht. Aber ich hatte es plötzlich satt, mir seine Ausreden anzuhören, sein ewiges Gejammere, dass er sich alles ganz anders wünschte. In dieser Welt musste man stark sein, sonst war man bald tot. Man tat, was getan werden musste, um zu überleben. Und selbst mir gelang es nur gerade so zurechtzukommen; ich konnte mir nicht auch noch die Unsicherheiten eines anderen aufbürden. »Dir gefällt nicht, wer du bist?«, fragte ich Stick, der bei meinem Ton sofort in sich zusammensackte. »Schön – dann ändere dich. Entwickele ein Rückgrat und sag Rat, er soll sich verpissen. Verpass ihm eine, wenn er versucht, dich rumzuschubsen. Tu irgendetwas , anstatt dich totzustellen und alles hinzunehmen.« Jetzt sah er so elend aus, als würde er gleich zusammenbrechen. Mit einem resignierten Seufzer fuhr ich fort: »Du kannst dich nicht ewig von mir abhängig machen«, erklärte ich ihm etwas sanfter. »Ja, die meiste Zeit kümmern
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