Tor der Daemmerung
konnte. Wenn er mich aussaugen und hier verrotten lassen wollte, konnte ich sowieso nichts vorbringen, um ihn davon abzuhalten.
Aber ich würde verdammt noch mal nicht kampflos untergehen.
»Interessant«, stellte der Vampir schließlich leise fest, fast als würde er mit sich selbst sprechen. »Manchmal vergesse ich, wie komplex die menschliche Rasse doch ist. Wir haben so viele von euch zu wilden Tieren degradiert – unzivilisiert, feige und jederzeit bereit, einander für das eigene Überleben zu opfern. Und doch lassen sich an den finstersten Orten vereinzelt jene finden, die noch immer mehr oder weniger menschlich sind.«
Das ergab überhaupt keinen Sinn, außerdem hatte ich keine Lust mehr zu reden und darauf zu warten, dass er etwas unternahm. »Was willst du, Vampir?«, stichelte ich also wieder. »Wozu reden wir noch groß? Wenn du mich beißen willst, komm endlich in die Gänge.« Aber erwarte bloß nicht, dass ich mich einfach hinlege und es über mich ergehen lasse. Bevor wir hier fertig sind, wirst du mein Taschenmesser in deiner Augenhöhle haben, Süßer.
Erstaunlicherweise lächelte der Vampir. Es war nicht mehr als ein leichtes Zucken der blassen Lippen, aber im Kontrast zu seinem versteinerten Gesicht entsprach das beinahe einem breiten Grinsen. »Ich habe mich heute bereits genährt«, verkündete er gelassen und trat einen Schritt zurück, sodass er in die Schatten eintauchte. »Und du kleine Wildkatze hast sicherlich Klauen, die du ohne zu Zögern einsetzen würdest. Allerdings bin ich nicht in der Stimmung für einen weiteren Kampf, du kannst dich also glücklich schätzen. Du bist einem herzlosen, seelenlosen Blutsauger begegnet und hast überlebt. Beim nächsten Mal könnte das Ganze anders ausgehen.«
Damit wandte er sich ab und verschwand. Aus der Dunkelheit schwebten seine letzten Worte zu mir herüber: »Vielen Dank für das Gespräch.« Dann war er weg.
Völlig verwirrt runzelte ich die Stirn. Welcher Vampir tötete erst vier Menschen, führte dann eine seltsame Unterhaltung mit einem Straßenmädchen, dankte ihr auch noch dafür und ging dann einfach? Verunsichert ließ ich den Strahl der Taschenlampe durch den Tunnel wandern, halb in der Erwartung, das sei nur ein Trick, damit ich in meiner Wachsamkeit nachließ, während der Blutsauger weiter vorne auf der Lauer lag und sich ins Fäustchen lachte. Das entspräche viel eher dem, was ein Vampir tat. Aber der Tunnel lag leer und still vor mir, sodass ich nach einem Moment über die blutenden Leichen hinwegstieg, zur Leiter rannte und mich so schnell wie möglich in die Röhre hinaufzog.
Auch oben in der Stadt war alles ruhig. Auf den Straßen war niemand zu sehen und in den verwitterten Geschäften, Häusern und Wohnungen war alles dunkel. Die funkelnden Vampirtürme durchbohrten den Nachthimmel, kalt und unnahbar wie ihre Herren. Diese stillen Stunden vor dem Morgengrauen waren noch immer die Zeit der Jäger, sodass alle sich in ihren Betten verkrochen und Türen und Fenster verbarrikadierten. Aber auf dieser Seite der Mauer verbarg die Dunkelheit zumindest keine wilden, hirnlosen Schrecken, die einmal menschlich gewesen waren. Hier waren die Raubtiere von komplexerer Natur, wenn auch nicht weniger gefährlich.
Ein kalter Wind fegte durch die Straßen, wirbelte Staub auf und trieb eine leere Dose über den Asphalt. Sie erinnerte mich daran, was ich jenseits der Mauer zurückgelassen hatte. Die Wut in mir flammte wieder auf und vertrieb den Rest der Angst. So viel Nahrung! Solch ein Reichtum, und ich konnte nichts davon mitnehmen. Bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um. Wütend kickte ich einen Stein gegen ein Autowrack, der prompt mit einem befriedigenden Scheppern gegen das verrostete Metall prallte.
Ich musste dorthin zurück. Auf keinen Fall würde ich mich hinter der Mauer verkriechen und Kakerlaken fressen, während in meinem Kopf ein ganzes Regal voller Lebensmittel herumspukte, die in irgendeinem Keller vergammelten. So oder so würde ich zurückgehen und mir wiederholen, was ich verloren hatte.
Aber im Moment war mein Magen gut gefüllt, von dem Sturz tat mir alles weh und ich war hundemüde. Das Licht der Taschenlampe wurde langsam schwächer, also schaltete ich sie aus, um die wertvollen Batterien zu schonen. Hier im Saum brauchte ich ohnehin kein künstliches Licht, um mich zurechtzufinden. Entschlossen schob ich mein einziges Beutestück in die Hosentasche und machte mich auf den Weg nach Hause.
»O mein
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