Tor der Daemmerung
Schlaf. Morgen würde ich mit Lucas sprechen und ihm von dem Lebensmittelvorrat erzählen, den ich gefunden hatte, dann konnte er die anderen davon überzeugen, dass wir ihn uns holten. Natürlich, bevor die Stadt abgeriegelt wurde. Wenn alle mit anpackten, konnten wir den ganzen Raum wahrscheinlich in zwei oder drei Runden ausräumen und mussten uns keine Gedanken mehr machen, wie wir über den Winter kamen. Rat war zwar ein Arsch und ein Möchtegerntyrann, aber er gehörte zur Gruppe und wir kümmerten uns nun mal umeinander. Außerdem bräuchte einer allein eine Ewigkeit, um die ganzen Sachen zu holen, und ich wollte mich nun wirklich nicht länger in den Ruinen aufhalten als unbedingt nötig.
Ich konzentrierte mich voll auf den Plan und verdrängte jeden anderen Gedanken an diese Nacht – egal ob Verseuchte, Suchaktionen oder Vampire im Tunnel –, bis ich schließlich einschlief.
4
»Allison«, sagte Mom und klopfte auf das Kissen neben sich, »komm hier hoch und lies mit mir.«
Schnell krabbelte ich auf das abgewetzte Sofa, das nach Staub und saurer Milch roch, und schmiegte mich an sie. Auf ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch, in dem bunte, fröhliche Tiere über die Seiten tobten.
Aufmerksam lauschte ich ihrer beruhigenden, leisen Stimme, während sie vorlas und so vorsichtig umblätterte, als hielte sie Schmetterlingsflügel zwischen ihren schlanken Fingern. Aber ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Es war verschwommen, als wäre es hinter einer wasserüberströmten Scheibe verborgen. Doch ich wusste, dass sie lächelte, und das gab mir ein warmes Gefühl der Geborgenheit.
»Wissen ist sehr wichtig«, erklärte sie geduldig und warf einer älteren Version von mir über den Küchentisch hinweg einen ernsten Blick zu. Vor mir lag ein Blatt Papier voller schlampiger, krummer Linien. »Worte definieren, wer wir sind«, fuhr Mom fort, während ich mühsam versuchte, aus meinen unbeholfenen Krakeleien etwas Ä hnliches zu machen wie ihre elegante Handschrift. »Wir müssen unser Wissen schützen und es weitergeben, wann immer es möglich ist. Wenn wir jemals wieder zu einer Gesellschaft zusammenwachsen wollen, müssen wir den anderen beibringen, wie man menschlich bleibt.«
Die Küche löste sich auf, zerfloss wie Wasser und veränderte sich.
»Mom«, flüsterte ich, schob mich noch weiter auf die Bettkante und sah zu, wie ihre Brust sich unter der dünnen Decke hob und senkte. »Mom, ich habe dir etwas Suppe gebracht. Versuch doch, sie zu essen, ja?«
Die zerbrechliche, bleiche Gestalt mit den langen schwarzen Haaren regte sich schwach. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, obwohl ich wusste, dass es irgendwo zwischen den dunklen Strähnen sein musste. »Mir geht es nicht gut, Allison«, flüsterte sie so leise, dass ich es kaum verstand. »Würdest du … mir vorlesen?«
Wieder dieses Lächeln, auch wenn das Gesicht verschwommen und unsichtbar blieb. Warum konnte ich sie nicht sehen? Warum erinnerte ich mich nicht? »Mom?« Ich stand auf, weil ich spürte, wie die Schatten herandrängten. »Wir müssen hier weg. Sie kommen.«
»A steht für Apfel«, flüsterte Mom. Sie entglitt mir bereits. Mit einem schrillen Schrei griff ich nach ihr, doch sie verschwand in der Dunkelheit. »B steht für Blut.«
Dröhnend krachte etwas gegen die Tür.
Die Zimmertür zitterte noch von dem plötzlichen Schlag, als ich aus meinem Traum hochschreckte. Sobald ich senkrecht stand, starrte ich mit pochendem Herzen zur Tür. Ich hatte einen leichten Schlaf, war extrem sensibilisiert, hörte jeden Schritt und merkte, wenn Leute sich an mich heranschlichen, während ich schlief. Deshalb wäre ich beim ersten Knall schon fast durch die Decke gegangen. Beim vierten riss ich die Tür auf, gerade in dem Moment, als Lucas die Faust hob, um noch einmal anzuklopfen.
Überrascht blinzelte er mich an. Lucas war dunkelhaarig und muskulös, hatte große Hände und ein überraschend kindliches Gesicht, wenn man von den kräftigen Augenbrauen absah, die seiner Miene eine große Ernsthaftigkeit verliehen. Während meiner Anfangszeit in der Gruppe hatte ich ihn als einschüchternd empfunden – selbst als Zwölfjähriger hatte er schon eine sehr gesetzte, sachliche Ausstrahlung gehabt. Im Laufe der Jahre hatte meine Furcht nachgelassen, mein Respekt für ihn jedoch nicht. Als unser ehemaliger Anführer angefangen hatte, eine Essenssteuer zu verlangen – also einen Anteil an allem, was wir ranschafften –, war Lucas eingeschritten,
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