Tor der Daemmerung
Tisch anbietet? Was wirst du tun, wenn sie flieht, sich zusammenkauert, dich anfleht, sie zu verschonen? Du musst für dich selbst herausfinden, wie du deine Beute jagen willst, sonst wird es dich in den Wahnsinn treiben. Und sobald du diese Schwelle überschritten hast, gibt es kein Zurück mehr.«
»Wie machst du das?«, flüsterte ich.
Mit einem leisen Lachen schüttelte Kanin den Kopf. »Meine Methode würde dir nicht weiterhelfen«, sagte er, während wir uns auf den Rückweg machten. »Du wirst deinen eigenen Weg finden müssen.«
Als wir die Gasse betraten, kamen wir an einem der Schläger vorbei, der gerade wieder zu Bewusstsein kam. Stöhnend und torkelnd stemmte er sich hoch und keuchte vor Schmerzen. Und obwohl mein Hunger gestillt war, reagierte etwas in mir auf den Anblick dieser verletzten, hilflosen Kreatur. Knurrend drehte ich mich zu ihm um und meine Fangzähne begannen zu wachsen, doch Kanin packte mich am Arm und zog mich durch die Dunkelheit davon.
6
Als ich aufwachte, lag ich allein auf einer verstaubten Liege in einem der alten Krankenhauszimmer. Wieder war es Nacht und ich wusste, dass die Sonne vor ungefähr einer Stunde untergegangen war. Kanin hatte mich gestern fast bis zum Morgengrauen draußen herumgescheucht und mir erklärt, dass ich als Vampir immer wissen müsse, wann die Sonne nahte und wie viel Zeit mir noch bliebe, um Schutz zu suchen. Den Legenden zum Trotz, fügte er hinzu, würden wir nicht sofort in Flammen aufgehen, aber unsere Körperchemie sei nun einmal eine andere, da wir technisch gesehen tot seien. Er verglich es mit einer menschlichen Krankheit namens Porphyrie, bei der toxische Substanzen die Haut schwärzten und aufplatzen ließen, wenn sie den ultravioletten Sonnenstrahlen ausgesetzt wurde. Saßen wir ohne einen Unterschlupf draußen fest, verbrannte das direkte Sonnenlicht unsere ungeschützte Haut, bis sie irgendwann tatsächlich in Flammen aufging. Als ich ihn entsetzt anstarrte, fügte er lediglich hinzu, dies sei eine sehr unschöne und schmerzhafte Art zu sterben, die man um jeden Preis vermeiden sollte.
Trotzdem hatten wir es nur knapp zurück geschafft. Auf dem Weg zu dem zerstörten Krankenhaus hatte sich der Himmel von einem reinen Schwarz zu einem dunklen Blau verfärbt, und ich war immer schläfriger geworden. Und trotz dieser Lethargie hatte ich gespürt, wie ich immer ängstlicher und verzweifelter wurde und alles in mir danach schrie, Schutz zu suchen. Krampfhaft hatte ich gegen die Schwäche angekämpft, die an mir zerrte, bis Kanin mich schließlich hochhob und in seinen Armen durch das hohe Gras trug. Irgendwann war ich mit dem Kopf an seiner Brust eingeschlafen.
Nun fiel mir auch alles andere wieder ein, was in der vergangenen Nacht passiert war, und ich zitterte. Es fühlte sich immer noch unwirklich an, als wären diese Dinge einem anderen zugestoßen. Sozusagen als Experiment versuchte ich, meine Fangzähne wachsen zu lassen, und prompt verlängerten sie sich und bohrten sich spitz und tödlich durch mein Zahnfleisch. Allerdings spürte ich keinen Hunger, was gleichzeitig eine Erleichterung und eine Enttäuschung war. Unwillkürlich fragte ich mich, wie oft ich mich wohl … nähren musste. Wie lange es dauern würde, bis ich wieder meine Zähne in einen Hals bohren und diesen heißen Rausch der Macht spüren konnte …
Wütend und angewidert schob ich diese Gedanken beiseite. Eine Nacht als Vampir, und schon hatte ich mich nicht mehr im Griff, gab dem Dämon in mir freiwillig nach.
»Ich bin nicht wie die«, schimpfte ich in der Dunkelheit auf das sich windende Ding in mir ein. »Verdammt, ich werde dagegen ankämpfen. Irgendwie. Ich werde nicht zu einem seelenlosen Monster werden, das schwöre ich.«
Mit einem heftigen Ruck stieß ich mich vom Bett ab und machte mich in dem engen, finsteren Korridor auf die Suche nach Kanin.
Er saß wieder an seinem Schreibtisch in dem Büroraum und blätterte in einem Stapel Papier. Als ich eintrat, schoss sein Blick kurz zu mir, bevor er weiterlas.
»Hm.« Ich hockte mich auf einen der umgekippten Schränke. »Danke, dass du mich heute Morgen nicht hast verbrennen lassen. Denn das passiert wohl, wenn ich draußen in der Sonne bleibe, oder?«
»Das würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen«, erwiderte Kanin ohne hochzusehen. Während ich ihn beobachtete, musste ich wieder daran denken, wie er mich getragen hatte. Stirnrunzelnd fragte ich schließlich: »Und warum konntest du
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