Tor der Daemmerung
Virusträger, oder?«
»So ist es.«
»Und warum bin ich dann nicht zu einer Verseuchten geworden?«
Er schüttelte den Kopf. »Denk nach«, sagte er leise. »Denk über das nach, was ich dir gerade gesagt habe. Du bist intelligent genug, um die Antwort selbst herauszufinden.«
Also dachte ich nach. »Ich bin nicht zu einer Verseuchten geworden«, sagte ich schließlich langsam, »weil … du ein Meistervampir bist.« Er schenkte mir ein humorloses Lächeln, und plötzlich sah ich ihn mit ganz anderen Augen. Kanin war ein Meistervampir – er könnte ein Prinz sein. »Aber wenn du ein Meistervampir bist, warum hast du dann keine eigene Stadt? Ich dachte …«
»Genug geredet.« Er stieß sich vom Tisch ab. »Wir haben heute Nacht noch etwas zu tun, und uns steht ein langer Weg unter der Stadt bevor. Wir sollten besser aufbrechen.«
Dieser plötzliche Stimmungsumschwung verblüffte mich. »Wo gehen wir denn diesmal hin?«
Kanin wirbelte mit solcher Grazie herum, dass ich die Bewegung erst realisierte, als er mich an die Wand drückte und seinen langen, geschwungenen Dolch an meine Kehle presste. Ich erstarrte vor Schreck, aber schon in der nächsten Sekunde ließ der Druck an meinem Hals nach und die Klinge verschwand wieder in den weiten Falten seines Mantels. Kanin musterte mich mit einem angespannten, schmalen Lächeln und trat zurück.
»Wäre ich ein Feind, wärst du jetzt tot«, sagte er knapp und trat in den Korridor hinaus, als wäre nichts passiert. Ruckartig hob ich eine Hand an die Brust – hätte ich noch einen Herzschlag gehabt, wäre er durch die Rippen zu spüren gewesen. »Die Stadt kann ein sehr gefährlicher Ort sein. Du wirst etwas Größeres brauchen als diese Fünfzentimeterklinge, die du zu deiner Verteidigung mit dir herumträgst.«
Schon als Straßenkind waren die Tunnel unter der Stadt mein Revier gewesen, ich hatte meine Geheimgänge, meine versteckten Wege, auf denen ich ungesehen durch die Sektoren schleichen konnte. Dieses Wissen über die Welt unter der Stadt hatte mich immer mit Stolz erfüllt, aber mein vampirischer Mentor hatte entweder ein unglaubliches Gedächtnis, oder er war schon viele, viele Male im dunklen, verschlungenen Untergrund unterwegs gewesen. Ich folgte ihm durch Tunnel, die ich nie gesehen, von denen ich nicht einmal geahnt hatte, dass sie existierten. Kanin wurde niemals langsamer und schien nie die Orientierung zu verlieren, was es manchmal zu einer echten Herausforderung machte, mit ihm Schritt zu halten.
»Allison.« Leicht gereizt drehte er sich um und wartete auf mich. »Die Nacht vergeht und bis zu unserem Ziel haben wir noch eine ziemliche Strecke vor uns. Könntest du dich bitte beeilen? Das ist bereits das dritte Mal, dass ich deinetwegen warten muss.«
»Du könntest ja auch etwas langsamer laufen.« Ich sprang vom Dach eines liegen gebliebenen U-Bahn-Waggons, rannte zu ihm und wich dabei einem Rohr aus, das tief über den Schienen hing. »Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Kleine Leute haben kurze Beine. Wenn du einen Schritt machst, brauche ich drei, also hör auf mit den Beschwerden.«
Kopfschüttelnd setzte er seinen Weg durch die Betonröhre fort, jetzt allerdings ein wenig langsamer – ein kleiner Sieg immerhin. Eilig bemühte ich mich, zu ihm aufzuschließen. »Ich hatte keine Ahnung, dass es hier auch ein Schienensystem gibt«, meinte ich irgendwann mit Blick auf einen der massigen Waggons, der seitlich auf dem Gleis lag. »Die Strecke unter dem dritten und dem vierten Sektor kannte ich, aber die wurde blockiert, als ein Gebäude darüber eingestürzt ist. Wohin führt diese hier?«
»Diese Schienen führen direkt durch das Herz der Inneren Stadt, unter den Türmen hindurch.« Kanins Stimme hallte durch die Dunkelheit. »Der dazugehörige Bahnhof ist schon lange geschlossen und die Tunnel wurden versiegelt, aber wir gehen sowieso nicht bis zu den Türmen.«
»Wir befinden uns unter der Inneren Stadt?« Gespannt blickte ich nach oben, als könnte ich durch die Betondecke hindurch die wuchtigen Vampirbauwerke sehen. Wie es wohl dort oben aussah? Glastürme, funkelnde Lichter, gut gekleidete Menschen und sogar Transportmittel, die noch funktionierten. Welten entfernt von der dreckigen, hoffnungslosen, hungernden Existenz im Saum.
»Sei nicht allzu enthusiastisch«, sagte Kanin warnend, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Die Menschen in der Inneren Stadt mögen besser gekleidet und genährt sein, aber doch nur, weil
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