Tor der Daemmerung
sie nützlich sind. Und was, meinst du, wird mit ihnen geschehen, wenn ihr Meister anfängt, sich zu langweilen oder wenn sie sein Missfallen erregen?«
»Es wird wohl kaum Pläne für ihren Ruhestand geben.«
Kanin schnaubte.
»Und du willst tatsächlich, dass ich irgendwann dort oben lebe?«
Sein Gesicht wurde weich. »Wie du dein Leben gestaltest, liegt allein bei dir, Allison. Ich kann dir lediglich die Fähigkeiten vermitteln, die dir das Überleben ermöglichen. Aber letztendlich wirst du deine eigenen Entscheidungen treffen und mit dir selbst ins Reine kommen müssen im Hinblick auf das, was du nun bist. Du bist ein Vampir, aber welche Art von Monster aus dir wird, liegt nicht in meiner Hand.«
»Und wenn ich nicht dort oben leben will?« Ich warf ihm einen schnellen Seitenblick zu, konzentrierte mich dann aber wieder auf die funkelnden Schienen unter meinen Füßen. »Wenn ich lieber … bei dir bleiben möchte?«
»Nein.« Kanins scharfe Antwort hallte so laut durch den Tunnel, dass ich zusammenzuckte. »Nein«, sagte er noch einmal, aber sanfter. »Ich werde nicht zulassen, dass ein anderer sich das Gewicht meines Weges auf seine Schultern lädt. Diese Reise muss ich ganz allein unternehmen.«
Mehr sagte er dazu nicht.
Die Bahngleise zogen sich noch weiter hin, aber Kanin führte mich in einen anderen, engeren Tunnel, der so kurvenreich und verzweigt war, dass ich bald die Orientierung verlor. Wir gingen unter Abflussgittern und Rinnsteinen hindurch, wo ich endlich einen Blick auf die Stadt über uns erhaschen konnte. Alles strahlte und funkelte, aber die Straßen wirkten leer und verlassen. Eigentlich hatte ich erwartet, überall Menschen zu sehen, die unerschrocken durch die Nacht wanderten, ohne Angst vor den Raubtieren, die sie umgaben. Oder ich hatte auf den Anblick eines Vampirs gehofft, der umringt von seinen Lakaien und Leibeigenen über die Bürgersteige schlenderte. Einmal fuhr ein Wagen über uns hinweg und ließ den Gullydeckel klappern, während gleichzeitig das Brummen des Motors in der Stille dröhnte. Es war das erste Mal, dass ich ein fahrendes, funktionstüchtiges Auto erlebte, aber davon mal abgesehen war es in der Stadt genauso ruhig wie im Saum.
Und als wir weiter unter den leeren Straßen entlangliefen, kamen im Glanz der Lichter noch andere Dinge zum Vorschein.
Durch die funkelnde Beleuchtung und die imposante Größe der Gebäude fiel es zunächst nicht auf, aber die Innere Stadt war genauso heruntergekommen und ramponiert wie die schlimmsten Teile des Saums. Es gab keine makellosen Herrenhäuser, keine überladenen Gebäude voller Lebensmittel, Kleidung und anderer nützlicher Dinge, und es hatte auch nicht jede Familie ein eigenes Auto. Stattdessen ragten überall schäbige, halb eingestürzte Häuser auf, die kaum besser instand gehalten wurden als der Rest der Stadt. Auch hier flackerten die Straßenlaternen, standen verrostete Autowracks herum, und Boden und Mauern waren mit Pflanzen überwuchert. Abgesehen von den drei glänzenden Vampirtürmen in der Ferne wirkte die Innere Stadt wie eine hellere, weil besser beleuchtete Version des Saums.
»Nicht ganz das, was du erwartet hast, oder?«, hakte Kanin nach, als wir in eine weitere Betonröhre abtauchten und die Lichter über uns verblassten. Ich folgte ihm und versuchte herauszufinden, ob ich mich nun bestätigt fühlte oder einfach nur enttäuscht war.
»Wo sind die ganzen Bewohner?«, wunderte ich mich. »Und die Vampire?«
»Die Menschen, die um diese Zeit wach sind, gehen alle einer Arbeit nach«, erklärte Kanin. »Sie kümmern sich darum, dass das Stromnetz funktioniert, verwalten die Überreste des Abwassersystems und reparieren kaputte Maschinen. Deshalb sind die Vampire immer auf der Suche nach talentierten, gebildeten und geschickten Menschen und holen sie in die Stadt – sie brauchen sie, damit alles funktioniert. Zusätzlich haben sie noch Menschen, die in ihren Fabriken arbeiten, die Gebäude reinigen und instand halten oder Nahrungsmittel für die restliche Bevölkerung anbauen. Die Übrigen, also Wachen, Leibeigene, Lakaien und Konkubinen, dienen ihnen auf andere Art.«
»Aber … sie können doch nicht alle arbeiten.«
»Das ist richtig«, nickte Kanin. »Die anderen sitzen hinter verschlossenen und verbarrikadierten Türen, halten sich von den Straßen fern und bleiben wenn möglich unsichtbar. Sie sind den Monstern viel näher als die Menschen im Saum, haben aber ebenso viel von ihnen zu
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