Tor der Daemmerung
Lektionen über die vampirische Gesellschaft, über Geschichte, Ernährungsgewohnheiten sowie Stärken und Schwächen unserer Spezies. Er stellte mir Fragen, um zu prüfen, wie viel ich noch von dem wusste, was ich in der Nacht zuvor gelernt hatte, und war immer erfreut, wenn ich mich an alles Notwendige erinnerte. Außerdem bestand er darauf, meine Rechenkünste zu verbessern, indem er zunächst einfache und dann immer komplexere Gleichungen aufschrieb, die ich zu lösen hatte. Schaffte ich das nicht, erklärte er mir geduldig, wie man vorgehen musste. Er dachte sich Logikrätsel aus und gab mir komplexe Dokumente zu lesen, zu deren Bedeutung er mich befragte, wenn ich damit durch war. Und obwohl ich all das nicht ausstehen konnte, zwang ich mich zur Konzentration. Auch das war Wissen, also etwas, das ich eines Tages vielleicht gegen die Vampire einsetzen konnte. Außerdem hätte Mom gewollt, dass ich diese Dinge lernte, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wann sich die schriftliche Division jemals als nützlich erweisen sollte.
Während ich arbeitete, las oder blätterte Kanin in seinen Dokumenten. Einige Male brachte er auch neue Kartons mit, die er dann durchsah. Manchmal las er einen ganzen Papierstapel komplett durch und legte ihn dann sorgfältig beiseite. In anderen Fällen warf er nur einen flüchtigen Blick auf einige Unterlagen, bevor er sie voller Ungeduld zerknüllte und wegwarf. Während die Tage vergingen, wurde er mit jedem verworfenen Blatt und jedem knittrigen Papierball, den er durch den Raum schleuderte, ungeduldiger und gereizter. Einmal brachte ich den Mut auf, ihn zu fragen, wonach er denn suche, was mir nur einen wütenden Blick und den angespannten Befehl einbrachte, gefälligst weiter zu arbeiten. Mir kam es auch komisch vor, dass er die Stadt noch immer nicht verlassen hatte, obwohl die Vampire ganz offensichtlich hinter ihm her waren. Was war so wichtig, dass er deswegen das Risiko einging, hier in dieser finsteren kleinen Ruine zu bleiben und endlose Aktenstapel und halb verbrannte Dokumente zu sichten? Aber Kanin hielt mich mit all den Dingen, die er in seinem Unterricht für wichtig hielt (Vampirgeschichte, Lesen und Rechnen), so auf Trab, dass mir weder die Zeit noch genug Hirnkapazität übrig blieb, um mich um andere Dinge zu kümmern.
Außerdem respektierte ich seine Einstellung. Er hatte seine Geheimnisse und ich meine. Ich würde bestimmt nicht anfangen, in seinem Privatleben herumzuschnüffeln, zumal er mich ja auch nicht über meine Vergangenheit ausquetschte. Zwischen uns herrschte diesbezüglich eine Art stillschweigender Waffenstillstand: Ich bohrte nicht nach, dafür brachte er mir weiterhin bei, wie man als Vampir zurechtkam. Alles, was nicht direkt mit meinem Überleben zu tun hatte, war unwichtig.
Nach Mitternacht begann meine Lieblingszeit. Bis dahin hatte ich mehrere Stunden lang mein Gehirn angestrengt, war gelangweilt oder gereizt gewesen und hatte mehr als einmal das Gefühl gehabt, mein Kopf würde gleich explodieren. Dann verkündete Kanin endlich, ich könne für diese Nacht aufhören. Anschließend gingen wir in die Empfangshalle des Untergeschosses, die wir von Schutt, Stühlen und kaputten Möbeln befreit hatten, und er brachte mir etwas ganz anderes bei.
»Halt den Kopf oben«, wies er mich an, während ich zum Angriff überging und mein Schwert auf seine Brust richtete. Anfangs war ich etwas ängstlich gewesen, mit einer echten Klinge gegen ihn zu kämpfen. Die Geschwindigkeit meiner Bewegungen war erschreckend, manchmal verschwamm sogar alles um mich herum, und das Schwert in meiner Hand schien federleicht zu sein. Aber schon mit den ersten Lektionen hatte mir Kanin klargemacht, dass für ihn keinerlei Gefahr bestand. Zerschunden und mit schmerzenden Muskeln hatte ich den Rest der Nacht im Bett verbracht, wobei die verdammte Vampirheilkraft nicht die geringste Hilfe bot.
Nun wich Kanin elegant aus und verpasste mir mit einem abgesägten Besenstiel einen nicht gerade sanften Schlag auf den Hinterkopf. Mein Schädel begann zu pochen und ich fuhr knurrend zu ihm herum.
»Du bist tot«, verkündete Kanin und wackelte mit dem Stab. Ich fletschte wütend die Zähne, was ihn kein bisschen beeindruckte. »Hör auf, das Schwert wie eine Axt zu schwingen«, fuhr er fort, als wir einander erneut umkreisten. »Du bist kein Holzfäller, der einen Baum abhacken will. Du bist eine Tänzerin, und das Schwert ist die Verlängerung deines Arms. Bewege dich mit
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