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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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oft an sie gedacht, sondern versucht, den Schmerz und die nagenden Schuldgefühle tief in mir zu vergraben. Was wäre gewesen, wenn ich diesen Keller voller Essen niemals entdeckt hätte, wenn ich nicht darauf bestanden hätte, dass wir uns die Sachen holen? Würden sie dann heute noch leben? Würde ich dann heute noch leben?
    »Hör auf«, sagte Kanin scharf. Überrascht blinzelte ich ihn an. Seine Miene war eiskalt. »Dieser Teil deines Lebens ist Vergangenheit«, fuhr er fort. »Lass es hinter dir. Wenn du nichts anderes kannst, als dich an dein altes Leben zu klammern, müsste ich bereuen, dir ein neues geschenkt zu haben.«
    Wütend starrte ich ihn an. »Ich klammere mich an gar nichts«, fauchte ich. »Mir sind nur ein paar Erinnerungen durch den Kopf gegangen. So ist das nun mal, wenn Leute mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden.«
    »Und ob du klammerst«, beharrte Kanin mit eisiger Stimme. »Du hast an dein altes Leben gedacht, an deine alten Freunde, und hast dich gefragt, was du hättest tun können, um sie zu retten. Erinnerungen dieser Art sind sinnlos. Es gibt nichts, was du hättest tun können.«
    »Es gab sehr wohl etwas«, flüsterte ich mit erstickter Stimme. Ich schluckte schwer und benutzte meine Wut, um dieses andere Gefühl zu überspielen, das in mir den Wunsch weckte, einfach loszuheulen. » Ich habe sie dorthin geführt. Ich habe ihnen von diesem Keller erzählt. Es ist meine Schuld, dass sie tot sind.«
    Meine Augen brannten, was ziemlich schockierend war. Bisher hatte ich nicht geglaubt, dass Vampire weinen konnten. Wütend wischte ich mir über das Gesicht, und im nächsten Moment waren meine Finger rot. Ich weinte Blut .
    Na großartig. »Los doch«, knurrte ich Kanin an. Ich spürte, wie meine Fänge wuchsen. »Sag mir, wie dämlich ich bin. Sag mir, dass ich mich ›an die Vergangenheit klammere‹, denn jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihre Gesichter vor mir. Sag mir, warum ich noch lebe und die anderen alle tot sind.«
    Blutige, heiße Tränen stiegen in mir hoch. Mit einem leisen Fluch wandte ich mich ab und bohrte mir die Fingernägel in die Handflächen, damit sie nicht anfingen zu fließen. Ich hatte seit Jahren nicht mehr geweint, das letzte Mal an dem Tag, als meine Mom starb. Plötzlich verschwamm die Welt hinter einem roten Film und ich blinzelte hektisch. Als ich die Augen wieder öffnete, war mein Blick klar, aber meine Brust fühlte sich an als stecke sie in einer Schraubzwinge.
    Kanin beobachtete schweigend, wie ich mich um Fassung mühte, eine reglose Statue mit leerem Blick. Erst als ich ihn direkt ansah, rührte er sich wieder.
    »Bist du fertig?«, fragte er ausdruckslos. Seine Augen waren wieder einmal abgrundtief schwarz.
    Ich nickte steif.
    »Gut. Solltest du noch einmal einen solchen Zirkus veranstalten, werde ich gehen. Niemand ist für den Tod deiner Freunde verantwortlich. Und wenn du dir weiter diese Schuld aufbürdest, wird sie dich zerstören und meine ganze Arbeit wäre umsonst gewesen. Verstehst du das?«
    »Glasklar«, erwiderte ich ebenso kalt wie er. Er ignorierte meinen Tonfall, deutete mit dem Kinn auf das Lagerhaus und zeigte dann ganz konkret auf eines der kaputten Fenster.
    »Dort lebt eine Gruppe Unregistrierter, aber das weißt du wahrscheinlich«, erklärte er. »Und um deine ursprüngliche Frage zu beantworten: Ich habe diesen Ort ausgewählt, weil die Unregistrierten nicht im System erfasst sind und niemand bemerken wird, wenn ein oder zwei von ihnen verschwinden.«
    Wie wahr , dachte ich, während ich hinter ihm durch das hohe Gras schlich. Uns vermisst nie jemand, weil wir gar nicht existieren. Es interessiert niemanden, wenn wir verschwinden, und niemand beweint uns, wenn wir nicht mehr sind.
    Wir stiegen durch eines der vielen zersplitterten Fenster und verschmolzen im Inneren mit der Finsternis. Überall lagen große Schutthaufen herum und schufen so eine Art kleines Tal in der Mitte des Raumes, wo der Boden frei blieb.
    Schmieriger Qualm von brennendem Holz und schmorendem Plastik hing über einer offenen Feuergrube und trieb träge durch die Halle. Es waren mehr Menschen hier, als ich erwartet hatte. Wie in einem kleinen Dorf lagerten rund um das Feuer Pappkartons, Zelte und notdürftig konstruierte Unterstände. In ihrem Inneren waren dunkle Gestalten erkennbar, die ahnungslos schliefen, während nur wenige Meter entfernt die Raubtiere lauerten. Ich roch ihren Atem und das heiße Blut, das durch ihre Adern

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