Tor der Daemmerung
der plötzlich innehielt und in den Hauseingang starrte, in dem wir uns Sekunden zuvor versteckt hatten. Ich konnte sehen, wie er mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit spähte und auf ein Geräusch lauschte. Doch in diesem Moment lernte ich, dass einer der Vorteile des Vampirdaseins darin bestand, dass man vollkommen reglos dastehen und so lange verharren konnte, wie es nötig war. Kanin hatte mich diese Fähigkeit bei uns im Krankenhaus sogar trainieren lassen. Stundenlang stand ich in einer Ecke, ohne mich zu rühren, ohne zu atmen, ohne den geringsten Drang, mich zu bewegen, zu husten oder zu blinzeln. Selbst als er anfing, mit seinem Dolch herumzuspielen und ihn nur Zentimeter neben meinem Kopf in die Wand zu rammen, durfte ich nicht einmal mit der Wimper zucken.
Nach einigen brenzligen Situationen dieser Art führte mich Kanin auf ein Hausdach. Über einen Drahtzaun, der zwei Sektoren voneinander trennte, gelangten wir in ein Viertel, das mir vertraut vorkam. Diese Straßen kannte ich, genau wie die heruntergekommenen Gebäude, die rechts und links von den Gehwegen vor sich hin moderten. Ich entdeckte Hurleys Tauschladen, den verwilderten, völlig überwucherten Park mit dem Spielplatz, auf dessen verrostete, brüchige Geräte sich niemand mehr traute, und den Platz zwischen den Lagerhäusern, wo sie die drei Unregistrierten aufgehängt hatten. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Und wenn wir die Abkürzung durch diese Gasse dort nahmen und unter einem verrosteten Maschendrahtzaun durchkrochen, würden wir am Rande eines verwüsteten Platzes landen, auf dem eine leere, verlassene Schule stand.
Das hier war Sektor 4. Ich war zu Hause.
Kanin gegenüber ließ ich das unerwähnt. Er würde in dem Fall vielleicht darauf bestehen, dass wir gingen, und ich wollte mir mein altes Viertel noch einmal ansehen, falls ich jemals hierher zurückkommen musste. Also folgte ich ihm schweigend durch die vertrauten Straßen, vorbei an altbekannten Gebäuden und Fixpunkten, während wir die Schule immer weiter hinter uns ließen. Ich fragte mich, ob mein Zimmer wohl unversehrt und meine alten Besitztümer noch dort waren. Wie das Buch meiner Mom – lag es sicher in seinem Versteck? Oder hatten andere die Schule übernommen und meine Sachen gestohlen oder eingetauscht?
Schließlich führte mich Kanin zu einem leer stehenden Lagerhaus am Rande des Viertels. Die Fenster des alten Ziegelgebäudes waren eingeschlagen und das Dach hatte große Löcher. Ich kannte es – das hier war Kyles Revier, das Gebiet der Rivalen meiner ehemaligen Gruppe. Wir hatten um Nahrung, Versteckmöglichkeiten und Territorien gerungen, aber immer auf freundschaftliche Art und Weise, eben zwischen ebenbürtigen Plünderern. Unter den Unregistrierten galt eine stillschweigende Übereinkunft: Das Leben war auch ohne Gewalt, Kämpfe und Blutvergießen schon hart genug. Auf der Straße grüßte man sich mit einem Nicken oder einem kurzen Gespräch, hin und wieder warnte man einander vor Razzien oder Patrouillen der Wachen, aber meistens ließen wir die anderen Gruppen einfach in Ruhe.
»Was wollen wir hier?«, fragte ich Kanin, während wir an einer verfallenen Mauer entlangschlichen, bei jedem Schritt darauf konzentriert, nicht auf Glasscherben, Nägel oder andere Gegenstände zu treten, deren Klimpern uns verraten hätte. »Warum gehen wir nicht einfach in das Gebiet der Blood Angels oder der Red Skulls und schnappen uns die nächste Gang?«
Kanin antwortete, ohne sich umzudrehen: »Weil sich so etwas schnell herumspricht. Da wir diese Männer am Leben gelassen haben, werden die anderen Gangs jetzt nach einem jungen Mädchen und einem Mann Ausschau halten, die zufällig auch noch Vampire sind. Sie werden extrem vorsichtig sein, viel wichtiger ist aber, dass die Wachen des Prinzen die Gangreviere jetzt sehr genau im Auge behalten werden. Jede deiner Handlungen hat Konsequenzen. Deshalb …« Er blieb stehen und wandte sich mit zusammengekniffenen Augen zu mir um. »Woher wusstest du eigentlich, wo wir sind?« Als ich schwieg, nickte er. »Du warst schon einmal hier, richtig?«
Verdammt. Dieser Vampir war viel zu aufmerksam. »Das hier war mein Sektor«, gab ich zu, was Kanin mit einem Stirnrunzeln quittierte. »Ich habe nicht weit von hier gelebt, in der alten Schule.« Mit meinen Freunden , fügte ich in Gedanken hinzu. Lucas, Rat und Stick, alle nicht mehr da, alle tot. In meiner Kehle bildete sich ein dicker Klumpen. Bisher hatte ich nicht
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