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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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und trat durch die Tür. Ich lauschte auf seine Schritte, die immer leiser wurden, dann herrschte Stille.
    Die Welt schien wieder Atem zu schöpfen. Reglos wartete ich einige Minuten lang, da ich wollte, dass dieser gruselige Vampir so weit wie möglich weg war, bevor ich endlich zu der geöffneten Kiste hinüberging und hineinspähte.
    Zwei Bücher. Mehr war nicht übrig geblieben. Zwei Bücher, nach lebenslanger Suche, und keines davon war das einzig Wichtige. Ich sank auf die Knie und spürte, wie sich mir die Kehle zuschnürte und der Magen umdrehte. Einen Moment lang wünschte ich mir, diese gierigen Plünderer wären noch am Leben, damit ich ihnen dieselben Schmerzen zufügen konnte, die ich nun empfand. Nichts war mir mehr geblieben, nichts, was mich mit meiner Vergangenheit verband. Das Buch meiner Mom, die einzig greifbare Erinnerung an sie, war für immer verloren.
    Ich weinte nicht. Benommen zog ich mich auf die Füße und ging hinaus, mühsam unterdrückte ich die Wut und die Verzweiflung und ließ mich von eisiger Gleichgültigkeit durchströmen. Verlust war für mich nichts Neues. Diese beiden Fremden hatten dasselbe getan wie jeder andere auch, wenn es ums Überleben ging. In dieser Welt hatte nichts Bestand, hier war jeder auf sich allein gestellt. Allie aus dem Saum wusste das – Allison der Vampir musste daran erinnert werden.
    Ohne einen Blick zurück verließ ich das Schulgebäude. Hier gab es für mich nichts mehr zu holen, und schon jetzt fing ich an, es aus meinen Gedanken zu verbannen und in den hintersten Winkel meines Bewusstseins zu schieben, wo all jene Erinnerungen lagerten, mit denen ich mich nicht mehr beschäftigen wollte. Man hielt sich nicht lange mit seinen Verlusten auf, sondern machte einfach weiter. Die Nacht schritt voran, und ich hatte noch etwas anderes zu erledigen, einen weiteren Teil meiner Vergangenheit zu prüfen, bevor Kanin herausfand, dass ich weg war.
    Je näher ich dem alten Lagerhaus kam, umso angespannter wurde ich. Lautlos schlüpfte ich in das Gebäude und hielt in der Halle und in den Kisten Ausschau nach bekannten Gesichtern. Der Großteil der Truppe war anscheinend schon wieder zurück, denn am Feuer hatte sich ungefähr ein halbes Dutzend junger Leute versammelt und unterhielt sich fröhlich. Ich sah mir jeden von ihnen genau an, aber Stick war nicht darunter.
    Und dann entdeckte ich ihn, er hatte sich etwas abseits hingehockt, sein dünner Körper war schützend zusammengekrümmt. Wut und Ekel flammten in mir auf, als ich ihn so zitternd und kläglich dahocken sah. Wut auf die Jugendlichen, die ihn offenbar ignorierten, die sich nicht um ihre Leute kümmerten und zuließen, dass einer von ihnen direkt vor ihrer Nase durch Hunger und Kälte langsam zugrunde ging. Aber auch Stick löste Verachtung in mir aus, weil er noch immer nicht gelernt hatte, selbst für sich zu sorgen, und sich immer noch darauf verließ, dass andere ihn retteten, während er ihnen doch offensichtlich völlig gleichgültig war.
    Lautlos suchte ich mir einen Weg durch den Schutt und hielt mich sorgsam im Schatten, bis Stick nur noch wenige Meter entfernt war. Er wirkte noch dünner als sonst, wie ein Skelett mit schlaffer Haut, fettigen Haaren und stumpf blickenden, toten Augen.
    »Stick«, flüsterte ich mit einem schnellen Blick zu der Gruppe am Feuer. Sie hatten mir – oder wohl eher Stick – allesamt den Rücken zugewandt und bemerkten nichts. »Stick! Hier drüben! Schau hierher!«
    Er zuckte heftig zusammen und riss den Kopf hoch. Ein paar Sekunden lang sah er sich verwirrt und benommen um, immer wieder glitt sein Blick über mein Versteck hinweg. Doch als ich ihm schließlich zuwinkte, fielen ihm vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf.
    »Allie?«
    »Schhhht!« Einige aus der Gruppe drehten sich stirnrunzelnd zu uns um, sodass ich mich hastig wieder in die Schatten zurückzog. Ich machte Stick ein Zeichen, dass er mir folgen solle, aber der saß bloß da und starrte mich an, als wäre ich ein Geist.
    Und damit lag er ja auch nicht ganz falsch.
    »Du lebst«, flüsterte er schließlich, doch in seiner Stimme fehlten die Freude und Erleichterung, die ich erwartet hatte. Er klang abgestumpft und zugleich beleidigt und sah noch immer völlig verwirrt aus. »Du solltest nicht mehr leben. Die Verseuchten … ich habe gehört …« Ein heftiger Schauder packte ihn und er rollte sich wieder zusammen. »Du bist nicht zurückgekommen«, fuhr er fort, und jetzt war der Vorwurf nicht mehr

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