Tor der Daemmerung
befahl ich ihm hastig und ließ meine Fänge verschwinden. Schon in dem Moment, als ich sie ihm gezeigt hatte, war mir klar geworden, dass ich einen Fehler gemacht hatte. »Ich werde dir nichts tun. Das bin immer noch ich, nur … anders.«
»Du bist ein Vampir«, flüsterte Stick, als hätte er das jetzt erst begriffen. »Ein Vampir !«
»Ja.« Ich zuckte mit den Schultern. »Die Verseuchten hatten mich erwischt und ich wäre gestorben, aber zufällig war ein Vampir in der Nähe, der mich stattdessen verwandelt hat. Allerdings sind jetzt die anderen Vampire hinter uns her, deshalb kann ich nicht bleiben. Ich will nicht, dass sie dich auch noch ins Visier nehmen.«
Aber Stick hörte mir gar nicht zu, völlig verkrampft krabbelte er von mir weg. »Stick«, versuchte ich es noch einmal und streckte die Hand aus. »Ich bin’s! Komm schon, ich würde dich doch niemals beißen oder so.«
»Bleib bloß weg von mir!« Sein panischer Schrei schreckte die Jugendlichen am Feuer auf. Mit irritiertem Gemurmel drehten sie sich zu uns um, dann standen die Ersten auf. Ich spürte, wie meine Lippen sich zurückschoben, um den Fängen Platz zu machen, doch selbst jetzt warf ich meinem alten Freund noch einen beschwörenden Blick zu.
»Stick, tu das nicht.«
»Vampir!«, kreischte er und stolperte so hastig von mir fort, dass er rückwärts im Dreck landete. »Vampir, hier drüben! Bleib weg von mir! Hilfe! Bitte, helft mir!«
Knurrend wich ich zurück, als die Gruppe am Feuer geschlossen aufsprang und laut brüllte. Halb rennend, halb kriechend näherte sich Stick dem Feuer, schrie immer wieder und zeigte in meine Richtung, woraufhin im gesamten Lager Chaos ausbrach. Der Schrei Vampir! hallte durch das Lagerhaus, während die kleine Gruppe sich hastig verstreute, durch Fenster sprang und sich gegenseitig anrempelte, um zu entkommen. Stick kreischte noch einmal, dann verschwand er in der Dunkelheit.
Der Lärm der verängstigten Unregistrierten war ohrenbetäubend und sprach einen primitiven Urinstinkt in mir an. Ein Teil von mir wollte ihnen hinterherjagen, sich in die Menge stürzen und ihnen die Kehlen aufreißen. Einen kurzen Moment lang beobachtete ich, wie die Menschen hektisch versuchten, einem Raubtier zu entkommen, das sie nicht einmal sahen, dass sie jedoch töten konnte, bevor sie seine Anwesenheit auch nur ahnten. Ich konnte ihre Angst spüren, roch das heiße Blut, den Schweiß und die Panik und musste meine gesamte Willenskraft aufbringen, um mich abzuwenden, in den Schatten zu verharren und sie in Ruhe zu lassen. Während sie vor mir flohen, gelang es mir im allgemeinen Aufruhr, durch ein Fenster zu entkommen. Ich blickte nicht zurück, bis das Gebrüll und die panischen Schreie in der Nacht verklungen waren.
Als ich durch den Aufzugschacht in das Krankenhaus zurückkehrte, saß Kanin an seinem Schreibtisch. Da ich ihm weder im Empfangsbereich noch in den Gängen begegnet war, dachte ich schon, ich hätte es unbemerkt zurückgeschafft, und wollte mich schnell in mein Zimmer schleichen. Doch dann kam ich an der offenen Bürotür vorbei.
»Hast du die Zeit mit deinem Freund genossen?«
Ich zuckte peinlich berührt zusammen und blieb abrupt stehen. Kanin hatte wie immer einen Aktenstapel vor sich und las gerade in einem Dokument. Er blickte nicht hoch, als ich wachsam das Zimmer betrat.
»Ich musste es tun«, erklärte ich ihm leise. »Ich musste wissen, ob es ihm gut geht.«
»Und wie ist es abgelaufen?«
Ich schluckte schwer. Endlich legte Kanin die Papiere weg und sah mich an. Seine schwarzen Augen waren undurchdringlich.
»Hat er geschrien?«, fragte er ruhig. »Hat er dich verflucht und ist voller Entsetzen geflohen? Oder war er ach so verständnisvoll und hat dir versprochen, dass sich nichts ändern würde, während du genau sehen konntest, welche Ängste er ausstand?« Als ich nicht antwortete, verzog sich Kanins Mund zu einem humorlosen Lächeln. »Dann schätze ich mal, es gab Geschrei und Aufruhr.«
»Du hast es gewusst«, warf ich ihm vor. »Du hast gewusst, dass ich zu ihm gehen würde.«
»Du bist nicht gerade die gefügigste Schülerin auf dieser Welt.« Er klang weder belustigt noch wütend oder resigniert. Für ihn war das einfach eine Tatsache. »Ja, ich wusste, dass du irgendwann die letzten Überreste deines alten Lebens aufspüren würdest. Das tut jeder. Da du nicht gerne auf Ratschläge hörst, die deiner eigenen Meinung widersprechen, musstest du die Erfahrung eben selbst machen.
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