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Tor der Daemmerung

Tor der Daemmerung

Titel: Tor der Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kagawa
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schnell ich konnte in die Höhe.
    An der Oberfläche war die Sonne gerade erst hinter dem Horizont versunken, und am dunkelblauen Himmel hingen noch blutrote Wolken. Es war lange her, dass ich etwas anderes gesehen hatte als nächtliche Dunkelheit, und so starrte ich einen Moment lang überwältigt auf die Farbflecken über mir. Wie schnell man doch vergessen konnte, wie ein Sonnenuntergang aussah!
    Willst du etwa hier rumstehen und wie ein Vollidiot irgendwelche hübschen Wolken anglotzen, bis Kanin dich findet? Verärgert verpasste ich mir eine mentale Ohrfeige, riss den Blick vom Horizont los und rannte eilig vom Gelände. Ich wagte es nicht, noch einen Blick zurückzuwerfen.
    Es war ein seltsamer Nervenkitzel, so allein durch die dunklen Gassen zu schleichen, genau, wie damals, als ich jenseits der Mauer unterwegs gewesen war: eine Mischung aus Aufregung und Angst. Ich sollte nicht hier draußen sein. Ohne jeden Zweifel würde Kanin stinksauer werden, aber jetzt war es zu spät, um mir darüber Gedanken zu machen. Seit Tagen hatte ich mich hierauf vorbereitet, und ich musste einfach einige Dinge herausfinden. Außerdem konnte er mich ja nicht wie ein Gefängniswärter ewig in diesem Krankenhaus festhalten. Bevor wir uns begegnet waren, war ich jederzeit hingegangen, wohin ich wollte, und niemand konnte mich aufhalten. Ich würde jetzt bestimmt nicht zu einem gefügigen Mäuschen werden, nur weil irgend so ein launischer, geheimniskrämerischer Vampir mir befahl, alles zu vergessen.
    Ich streifte durch die Sektoren und rief mir sowohl ins Gedächtnis, welche Wege Kanin gewählt hatte, als auch mein eigenes Wissen aus der Zeit im Saum. Als Tote war es wesentlich einfacher, lautlos wie ein Geist durch die Dunkelheit zu ziehen: Ich konnte mühelos auf zweistöckige Gebäude springen, um Wachen zu entgehen, oder zu absoluter Reglosigkeit erstarren und mit den Mauern und den Schatten verschmelzen. Ungesehen und ungehört pirschte ich durch die Straßen und schob mich an den Bauruinen vorbei, bis ich den vertrauten Drahtzaun erreichte. Ich schlüpfte unter ihm hindurch, überquerte eilig den offenen Platz und betrat die finsteren Korridore meines ehemaligen Heims.
    Alles schien lebloser zu sein als früher, still und verlassen. Als ich meinen Spind entdeckte, riss ich die quietschende Tür auf und seufzte. Leer, wie befürchtet. Die Plünderer waren bereits hier gewesen.
    Ohne rechte Lust wanderte ich in mein altes Zimmer, das wahrscheinlich ebenfalls ausgeräumt sein würde. Plünderer brauchten nie lange, um irgendwo einzuziehen. Doch ich hatte noch ein wenig Hoffnung, dass sie eine gewisse Kiste vielleicht in Ruhe gelassen haben könnten, da sie nichts anrühren würden, das ihnen einen schnellen Tod einbringen konnte.
    Ich drehte den Knauf, drückte die Tür auf und ging hinein. Zu spät bemerkte ich, dass ich nicht allein im Raum war.
    In einer Zimmerecke hockte eine Gestalt und lehnte sich entspannt an die Wand. Automatisch griff ich nach meinem Schwert. Eine Schrecksekunde lang dachte ich, es wäre Kanin. Das traf zwar nicht zu, aber dennoch war es ein Vampir, ein schlanker, fast schon knochiger Mann, dessen bleicher Schädel völlig kahl war. Lächelnd zeigte er seine perfekten Zähne, während das Mondlicht durch die kaputten Scheiben fiel und die markanten Narben hervortreten ließ, die sich wie ein Netz über sein weißes Gesicht zogen.
    »Guten Abend, kleines Vögelchen.« Seine leise Stimme klang rau und hatte einen derart falschen Unterton, dass ich schauderte. »Unternimmst du einen netten Mitternachts ausflug auf deinen Schwingen aus Blut und Schmerz? Wie Rasierklingen vor dem Mond zerfetzen sie die Nacht und lassen den Himmel bluten.« Wieder lief es mir eiskalt den Rücken runter, als er leise lachte. Während ich langsam zurückwich, musterte mich der Fremde mit schräg gelegtem Kopf. »Oh, beachte mich gar nicht, Liebes. Manchmal werde ich etwas poetisch. Das macht das Mondlicht.« Er schüttelte sich, als wollte er den Irrsinn abstreifen, dann stand er auf.
    Erst jetzt fiel mir auf, dass er ein Buch in den knochigen Fingern hielt. Empört trat ich einen Schritt vor. »Hey! Was machen Sie denn da? Das sind meine!«
    »Tatsächlich?« Der Vampir löste sich von der Wand. Ich verkrampfte mich, aber er ging lediglich zum Regal und legte das Buch sanft darauf ab. »Dann hättest du vielleicht besser auf sie aufpassen sollen, Liebes«, schnurrte er und warf mir einen mahnenden Blick zu. Seine Augen waren

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