Tor der Daemmerung
zu überhören. »Du bist nicht zurückgekommen, um mich zu holen. Ich dachte, du wärst tot, und du hast mich allein gelassen.«
»Mir blieb keine andere Wahl«, presste ich angespannt hervor. »Glaub mir, ich wäre früher gekommen, wenn ich gekonnt hätte, aber ich wusste ja auch nicht, dass du noch lebst. Ich dachte, die Verseuchten hätten dich erwischt, genau wie Rat und Lucas.«
Stick schüttelte den Kopf. »Ich bin nach Hause gegangen und habe da auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen. Ganz allein bin ich dort geblieben, tagelang. Wo warst du? Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«
Er hörte sich an wie ein quengeliges Kleinkind, was mich nur umso mehr verärgerte. »Ich war in Sektor 2, in der Nähe eines alten Krankenhauses«, fauchte ich, »aber das ist jetzt auch egal. Ich bin gekommen, um nachzusehen, ob es dir gut geht und ob du zurechtkommst.«
»Was interessiert es dich?«, murmelte Stick und zupfte an seinem verschlissenen Ärmel. Mit wässrigen Augen musterte er meinen Mantel, dann kniff er wütend die Lider zusammen. »Dich hat doch noch nie wirklich interessiert, was aus mir wird. Du wolltest mich immer nur loswerden, genau wie alle anderen. Deswegen bist du nicht zurückgekommen.«
Nur mit Mühe gelang es mir, ein Knurren zu unterdrücken. »Jetzt bin ich doch hier, oder etwa nicht?«
»Aber du wirst nicht bleiben, stimmt’s?« Mit verschleiertem Blick sah er zu mir hoch. »Du wirst wieder weggehen und mich mit diesen Leuten allein lassen. Die hassen mich, genau wie Rat und Lucas mich gehasst haben. Und du hast mich auch gehasst.«
»Das ist nicht wahr, aber momentan führst du mich schwer in Versuchung.« Wie verrückt war das denn? So hatte ich Stick noch nie erlebt, und ich war völlig ratlos, wo diese brodelnde Wut auf einmal herkam. »Verdammt noch mal, Stick, hör auf, dich wie ein Baby aufzuführen. Du kannst auch alleine klarkommen. Du brauchst mich nicht als deinen Aufpasser, das habe ich dir schon immer gesagt.«
»Dann … wirst du also nicht bleiben.« Sticks Stimme begann zu zittern und sein Zorn verwandelte sich in Panik. »Allie, bitte, es tut mir leid! Ich hatte einfach Angst, als du nicht zurückgekommen bist.« Hastig kroch er in meine Richtung, sodass ich alarmiert zu der Gruppe am Feuer hinüberspähte. »Bitte geh nicht«, flehte Stick. »Bleib bei uns. Hier ist es gar nicht so schlecht. Kyle wird es nicht stören, wenn wir einer mehr sind, besonders nicht bei jemandem wie dir.«
»Stick.« Mit einer ruppigen Geste versuchte ich, ihn zu beruhigen. Sofort verstummte er, aber seine Augen flehten mich weiterhin an, bei ihm zu bleiben. »Ich kann nicht«, erklärte ich ihm, und sofort verzerrte sich sein Gesicht. »Ich wünschte, es wäre möglich, aber ich kann nicht. Bei mir hat sich … ich bin jetzt anders als früher. Ich kann mich hier oben nicht mehr blicken lassen. Du wirst also ohne mich überleben müssen.«
»Warum?« Wieder kroch Stick auf mich zu. Sein Kinn zitterte heftig, offenbar war er kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Warum kannst du nicht einfach hier bleiben? Hasst du mich denn so sehr? Bin ich derart erbärmlich, dass du mich hier zum Sterben zurücklässt?«
»Hör auf mit diesem Theater.« Verlegen wandte ich mich ab. Gleichzeitig war ich wütend, auf ihn genauso wie auf mich selbst. Kanin hatte recht gehabt, ich hätte niemals hierher kommen dürfen. »Du bist nicht hilflos«, sagte ich leise. »Du hast genauso lange als Unregistrierter überlebt wie ich. Da wird es doch Zeit, dass du anfängst, für dich selbst einzustehen. Ich kann dir nicht länger helfen.«
»Nein, das ist nicht der Grund«, protestierte Stick. »Du verschweigst mir doch etwas.«
»Das willst du gar nicht wissen.«
»Warum hast du Geheimnisse vor mir? Traust du mir nicht? Wir haben uns doch sonst auch immer alles gesagt.«
»Lass es gut sein, Stick.«
»Ich dachte, wir wären Freunde«, drängte er weiter und beugte sich verschwörerisch vor. »Hier mag mich keiner, niemand versteht mich so wie du. Ich dachte, du wärst tot! Jetzt bist du wieder da, willst mir aber nicht sagen, was los ist.«
»Na schön!« Mit einem wütenden Blick drehte ich mich wieder zu ihm um. »Du willst also unbedingt den Grund wissen?« Und bevor er überhaupt antworten oder ich mir bewusst machen konnte, wie abgrundtief dämlich die Idee war, öffnete ich den Mund und entblößte meine Fangzähne.
Stick wurde so blass, dass ich glaubte, er würde umkippen. »Nicht schreien«,
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