Tor der Daemmerung
davon habe ich ja nichts.« Was eigentlich traurig war. Siebzehn Jahre hatte ich hier gelebt und nichts vorzuweisen außer einem Schwert und der Kleidung, die ich am Leib trug. Und die gehörten eigentlich auch nicht mir. Einen Moment lang wünschte ich mir, ich hätte irgendein Erinnerungsstück an meine Mom, einen Gegenstand, den ich mit ihr verband, aber selbst das hatten mir die Vampire genommen.
Und erst dann begriff ich es – ich würde weggehen. Würde den einzigen Ort verlassen, den ich kannte, und den ich mein Leben lang als Zuhause angesehen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was jenseits der Mauer und der Ruinen auf mich wartete. Aus Kanins Erzählungen wusste ich zwar, dass es andere Vampirstädte gab, die weit verstreut in der Wildnis lagen, aber ich wusste nicht, wo genau sie zu finden waren. Kanin schien nur ungern von seinen Reisen zu berichten oder überhaupt von der Welt dort draußen, also kam das Thema nur selten zur Sprache. Gab es da irgendwo Menschen, die auf den Schutz der Vampire pfiffen und frei lebten? Oder bestand die Welt nur aus Ödland mit verfallenen Gebäuden und Wäldern voller Verseuchter und anderer Schrecken?
Das würde ich wohl bald selbst herausfinden, denn Kanin ließ mir keine Zeit für weitere Überlegungen. »Beeilung«, befahl er knapp, während wir zum Aufzugschacht liefen. Es würde das letzte Mal sein, dass wir ihn benutzten. »Rauf mit dir. Wahrscheinlich sind sie schon fast hier.«
Hastig zog ich mich durch die finstere Röhre, erreichte die offenen Ruinen und trat beiseite, damit Kanin mir folgen konnte. Zwischen den geschwärzten Mauerresten rührte sich nichts, aber jenseits des leeren Hofes raschelte es im Gras als würde ein leichter Wind hindurchfahren – Schritte. Viele verschiedene Schritte. Die in unsere Richtung kamen.
Und dann sah ich sie, trotz der hohen Gräser und Büsche: Vampire. Eine große Gruppe, deren bleiche Haut im Mondlicht schimmerte. In Zweiergruppen marschierten sie über den Hof. Um sie herum wuselten einige schwer bewaffnete menschliche Wachen, alle mit Sturmgewehren ausgestattet. Die Vampire schienen keine Waffen zu tragen, doch allein ihre Anzahl und die Art, wie sie lautlos durch das Gras glitten, ließ mich so heftig auf meiner Unterlippe herumkauen, dass Blut floss. Sie wirkten wie eine Armee von Leichen.
Kanin packte meine Schulter, und ich blickte zu ihm hoch, bemüht, meine Angst zu verbergen. Er hielt einen Finger an die Lippen und deutete wortlos Richtung Stadt. Geräuschlos verschwanden wir in der Dunkelheit, während die leisen Stimmen und unaufhaltsamen Marschschritte auf unser Versteck zuhielten.
Noch nie in meinem Leben war ich so schnell gerannt. Im Tod übrigens auch nicht.
Kanin trieb mich gnadenlos durch die Stadt, durch Seitenstraßen und Gassen, durch Gebäude, die kurz vor dem Zusammenbruch standen, und unter ihnen hindurch. Jetzt war es von Vorteil, dass mir nicht mehr die Puste ausgehen konnte, denn so war es mir möglich, unermüdlich hinter Kanin herzuhetzen. Grausamerweise kannten unsere Verfolger ebenfalls keine Müdigkeit und hatten, nachdem sie unsere Flucht bemerkt hatten, noch Verstärkung herbeigerufen. Normale Fahrzeuge und gepanzerte Laster kurvten durch die Straßen, grelle Suchscheinwerfer durchbohrten die Dunkelheit, und die Wachen hielten sich bereit, um auf alles zu schießen, das sich bewegte. Die Menschen hatten sich klugerweise in ihre Häuser zurückgezogen. In dieser Nacht ließen sich nicht einmal die Gangs blicken. Eine stadtweite Treibjagd, bei der sich sogar die Vampire scharenweise offen zeigten, war selbst für den härtesten Schläger Grund genug, um sich fernzuhalten.
Schon sehr bald wurde es auf den Straßen zu gefährlich für uns, aber Kanin hatte ohnehin nicht vor, lange an der Oberfläche zu bleiben, sondern führte uns so schnell es ging in die Welt unter der Stadt. Noch während er einen Gullydeckel anhob, winkte er mir schon hinabzuklettern, und ohne zu zögern, ließ ich mich in die Eingeweide der Stadt hinuntergleiten.
»Wir dürfen auch hier nicht langsamer werden«, warnte mich Kanin, nachdem er lautlos neben mir gelandet war. »Sie werden die Tunnel ebenfalls absuchen, vielleicht sogar noch gründlicher als die Straßen. Aber hier unten sind wir wenigstens etwas geschützt und außerhalb der Reichweite ihrer Fahrzeuge.«
Ich nickte. »Wohin jetzt?«
»Zu den Ruinen. Jenseits der Stadtgrenze werden sie uns vielleicht nicht weiter verfolgen.«
Beim Gedanken an die
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