Tor der Daemmerung
»Und Sie müssen Jeb sein.«
»Ich bin Jebbadiah Crosse«, korrigierte mich der Mann leicht pikiert. »Und Ezekiel weiß, dass ich keine Bedürftigen abweise, also bist du hier willkommen. Doch wenn du bleiben willst, musst du dich an die Regeln halten, denen wir alle folgen. Wir reisen nachts, und wir schlagen ein schnelles Tempo an. Wer zurückbleibt, wird zurückgelassen. Jeder leistet seinen Beitrag – wir verteilen keine Gratismahlzeiten, du wirst also arbeiten müssen: jagen, sammeln, kochen, falls nötig. Diebstahl jeglicher Art wird nicht toleriert. Wenn du glaubst, diese Regeln befolgen zu können, kannst du bei uns bleiben.«
»Ach, tatsächlich?«, erwiderte ich so sarkastisch wie möglich. »Vielen herzlichen Dank.« Das konnte ich mir dann doch nicht verkneifen. Predigten über Regeln, an die ich mich zu halten habe, nur weil das jemand gesagt hat – so etwas war noch nie mein Ding gewesen. Ruth und Darren blinzelten schockiert, aber Jebbadiah zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Ezekiel fungiert als mein Stellvertreter. Falls du irgendwelche Probleme hast, wende dich damit an ihn«, fuhr er nahtlos fort und wandte sich dann mit einem knappen Nicken an Zeke. »Das mit dem Jungen war gute Arbeit, Sohn.«
»Danke, Sir.«
Ein kaum wahrnehmbares, stolzes Lächeln huschte über Jebbadiahs Gesicht, bevor er sich abrupt zu Ruth umdrehte, die unter seinem Blick zu schrumpfen schien. »Ich erwarte von dir, dass du in Zukunft besser auf den kleinen Caleb aufpasst«, befahl er. »Eine solche Nachlässigkeit ist unverzeihlich. Hätte Ezekiel ihn in dieser Nacht nicht mehr gefunden, hätten wir ihn zurücklassen müssen. Hast du das verstanden?« Ruth nickte, doch ihre Unterlippe zitterte verdächtig.
»Gut.« Jeb trat einen Schritt zurück und nickte mir zu. Noch immer ließ sich aus seinen Augen absolut kein Gefühl ablesen. »Willkommen in der Familie, Allison«, verkündete er, dann marschierte er mit auf dem Rücken verschränkten Händen davon. Am liebsten hätte ich seinen Abgang mit einer Grimasse quittiert, aber da Zeke mich beobachtete, verkniff ich mir das.
Darren klopfte Zeke kurz auf die Schulter und kehrte dann auf seinen Posten zurück. Caleb strahlte jetzt wieder, aber Ruth nahm ihn an die Hand und zerrte ihn mit sich fort. Als ich Zeke einen spöttischen Seitenblick zuwarf, zog er fragend eine Augenbraue hoch.
»Ezekiel?«
Peinlich berührt zuckte er zusammen. »Ja. Das ist der Name eines Erzengels, aber eigentlich nennt nur Jeb mich so.« Verlegen fuhr er sich durch die Haare und wandte sich ab. »Komm, ich stelle dich den anderen vor.«
Kurz darauf lernte ich sämtliche Mitglieder der kleinen Gemeinde kennen, wobei ich allerdings die meisten Namen sofort wieder vergaß. Ungefähr die Hälfte der dünnen, halb verhungerten Menschen waren Erwachsene, der Rest bestand aus Jugendlichen in meinem Alter oder noch jünger. Aus der Tatsache, dass es hier eine Menge Kinder ohne Eltern gab, ließ sich wohl schließen, dass die Gruppe früher größer gewesen war. Wie lange sie wohl schon durch die Gegend wanderten, einem fanatischen alten Mann folgten und nach einer sagenumwobenen Stadt suchten, die vermutlich gar nicht existierte? Und wie viele von ihnen hatten es nicht mal bis hierher geschafft?
Anfangs verhielten sich die Erwachsenen mir gegenüber sehr kühl. Ich war eine Fremde, ein unbeschriebenes Blatt und ein weiteres Maul, das gestopft werden wollte. Das wäre im Saum nicht anders gewesen. Aber nachdem Zeke ihnen meine Geschichte erzählt hatte, sogar mit noch mehr Wut und Hass auf die Vampire, als ich ursprünglich eingebaut hatte, brachten sie mir plötzlich Mitgefühl, Bewunderung und Respekt entgegen. Ich war erleichtert. Auf einen Streich hatte ich all diese Fremden für mich gewonnen, ohne irgendetwas sagen oder beweisen zu müssen. Na ja, eigentlich war das Zekes Verdienst, aber darüber würde ich mich sicher nicht beklagen. Es würde auch so schon schwer genug werden, mit diesen Menschen zusammen zu sein, ohne sofort Misstrauen und Zweifel zu wecken.
»Also gut, alle mal hergehört!«, rief Zeke nach der Vorstellungsrunde. »In ungefähr zwei Stunden geht die Sonne auf, es ist also zu spät, um heute Nacht noch weiterzuziehen. Das heißt, wir werden hier unser Lager aufschlagen. Die erste und die zweite Wache sollten bis zum Sonnenaufgang verdoppelt werden. Darren und ich haben in der näheren Umgebung zwar keine Verseuchten gesehen, aber ich will kein Risiko eingehen.
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