Tor der Daemmerung
umherstreifen sehen?«
Ich unterdrückte ein Seufzen. Anscheinend war das die Frage des Tages, oder vielmehr die Frage der Nacht. Teresa, die alte Frau mit dem schlimmen Bein, hatte sie auch schon gestellt, genau wie Matthew, ein Zehnjähriger mit Sommersprossen. Und dann war da noch Ruth, die mich ohne eine Miene zu verziehen fragte, ob ich die Hure eines Vampirs gewesen sei. Natürlich hatte Caleb anschließend wissen wollen, was eine Hure ist, woraufhin Ruth ihm eine sehr vage Antwort und eine extrem verharmlosende Erklärung gegeben hatte – nicht ohne mich gleichzeitig über seinen Kopf hinweg zuckersüß anzulächeln. Wären nicht Zeke und Jeb in der Nähe gewesen – wenn auch außer Hörweite –, hätte ich der selbstgefälligen Kuh wohl eins auf die Nase gegeben.
Diesmal kam die Frage von Dorothy, einer blonden Frau in den mittleren Jahren, mit grünen Augen. Ihr Blick wirkte genauso entrückt wie ihr Lächeln. Oft wanderte sie ein Stück weit hinter der Gruppe und starrte dabei beseelt die Straße hinunter oder Richtung Horizont. Manchmal winkte sie auch jemandem oder etwas in der Ferne zu – was außer ihr niemand sehen konnte. Oder sie brach unwillkürlich in Gesang aus und intonierte aus vollem Hals »Amazing Grace« oder andere religiöse Hymnen, bis irgendjemand sie liebevoll bat, still zu sein.
Meiner Meinung nach hatte sie nicht alle Tassen im Schrank. Doch in anderen Momenten war sie dann ganz normal. So wie jetzt, wo sie unglücklicherweise klar genug war, um Fragen zu stellen, die ich lieber nicht beantworten wollte.
»Nein«, murmelte ich, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. Bloß keinen Blickkontakt zu der Verrückten aufnehmen. Wenn man sie nicht ansieht, geht sie vielleicht weg. »Ich habe nicht viele Vampire ›umherstreifen‹ sehen. Ich habe überhaupt nicht viele Vampire gesehen, Punkt.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Dorothy weiter, woraufhin ich meinen Vorsatz in Bezug auf den Blickkontakt vergaß und sie misstrauisch musterte. Sie lächelte selig. »Die vampirischen Teufel sind Meister der Verkleidung«, fuhr sie fort, was mir einen gehörigen Schrecken einjagte. »Die Leute denken automatisch an geifernde Monster mit großen Zähnen und roten Augen, aber genau das sollen wir ja glauben. In Wirklichkeit können sie genauso aussehen wie jeder andere auch.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Das macht sie erst so gefährlich, dass sie vollkommen menschlich wirken können. Sie können aussehen wie Teresa, oder wie ich, oder wie du.«
Ich unterdrückte einen Anflug von Panik. »Dann weiß ich es natürlich nicht«, antwortete ich achselzuckend. »In der Stadt habe ich eine Menge Leute gesehen. Vielleicht waren das ja alles Vampire – und ich wusste es nur nicht.«
»Oh, es gibt noch andere Wege, um herauszufinden, ob jemand ein Teufel ist«, versicherte mir Dorothy mit einem ernsten Nicken. »Die Teufel hassen die Sonne und gehen bei Tageslicht in Flammen auf. Sie können dem Anblick von Blut nicht widerstehen, und sie atmen auch nicht wie wir. Aber am allerwichtigsten …« Als sie sich vertraulich zu mir herüberbeugte, drückten meine Reißzähne gegen das Zahnfleisch. Wie gerne hätte ich sie gebissen, einfach um sie zum Schweigen zu bringen. »Am allerwichtigsten«, flüsterte sie, »ist dieses rote Glühen, das die Teufel umgibt, die Aura des Bösen, die nur wenige Menschen sehen können. Man muss wissen, worauf man achten muss, und von Weitem ist sie nur schwer zu erkennen, aber daran kann man einen Teufel von einem echten Menschen unterscheiden. Genau wie bei dem weißen Glühen der Engel, die manchmal auf der Straße erscheinen.« Sie unterbrach sich und starrte mit einem verträumten Lächeln auf die Stelle, wo die Straße mit dem Horizont verschmolz. »Oh, da ist gerade einer! Kannst du ihn sehen? Er geht nicht in unsere Richtung, deshalb ist er etwas schwer zu erkennen.«
Da war niemand auf der Straße. Vor uns war überhaupt nichts, abgesehen von einem großen braunen Vogel auf einem Zaunpfosten. Mit einem misstrauischen Blick brachte ich etwas Abstand zwischen uns, während Dorothy so heftig mit den Armen wedelte, dass der Vogel einen überraschten Laut ausstieß und davonflog.
»Ist das Gabriel? Oder Uriel?« Sie winkte noch einmal und verzog dann enttäuscht den Mund. »Oh, er ist verschwunden! Sie sind so scheu. Aber es könnte Gabriel gewesen sein.«
»Dorothy.« Plötzlich stand Zeke neben ihr und schenkte mir ein beruhigendes
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