Tore der Zeit: Roman (German Edition)
für den passenden Ton. Sie dürfen bloß nicht dagegenstoßen«, erklärte Thierry. »Bewegen Sie sich nicht ruckartig, dann sollte sich auch nichts lockern. Ich bin sicher, das werden großartige Bilder.«
»Allerdings. Davon bin ich überzeugt«, murmelte Ravenna. Vorsichtig tastete sie nach der Kamera, aber das Gehäuse war unter dem flauschigen Pelzkragen kaum zu spüren.
Als sie den Kopf hob, merkte sie, dass sich das Gelände verändert hatte. Das Tal wurde flacher, der Boden war bedeckt mit jungem Gras. Ihre Begleiter ritten langsamer.
Mit klopfendem Herzen lenkte Ravenna ihre Stute durch das hügelige Gelände. Vor ihnen lag der Montmago. Sie hatte gar keinen Zweifel daran, obwohl sie den Berg zum ersten Mal sah. Diesen Anblick würde sie im Leben nicht vergessen.
Die Straße endete an einem Bachlauf. Eine sanft ansteigende Wiese breitete sich auf der anderen Seite aus. Das Grasland dehnte sich den Hang hinauf und ging schließlich in einen Geröllkegel über, auf dem ein riesenhaftes Schloss thronte – so sah es zumindest aus. Tatsächlich lag der zerklüftete Berg vor ihnen, ein Sandsteinmassiv, das wie Finger an einer Hand in den Himmel ragte. Vor diesem Berg standen zwei vollkommen identische Türme aus grauem Stein.
Ravenna sog den Atem ein.
Zwischen den Türmen flimmerte die Luft. Es war ein Anblick, der durch Mark und Bein ging. Als schaute man durch wabernde Alkoholdämpfe. Eine gewaltige Hitze schien aus dem Boden aufzusteigen, wie Dunst über einem brennenden Ölfeld. Ein nie abreißendes Schauspiel an Falschfarben quoll unter einem riesigen Torbogen auf.
Die Hexen hatten angehalten. Endlich erlaubte man ihr, zur Spitze des Zuges zu reiten.
»Mein Gott«, murmelte Ravenna. »Ist es das, was ich denke? Ist das das Tor?«
Lucian nickte. »Das Hauptportal. Wie es aussieht, steht es weit offen.«
»Wie ist das möglich?«, fragte sie. »Ich meine – wie schaffte es Beliar, die Verbindung so lange aufrechtzuerhalten? Eine que r verlaufende Verbindung.«
Ein Tor zu öffnen war ein Kraftakt, eine enorme Anstrengung des magischen Willens. Yvonne, falls sie hinter dieser Erscheinung steckte, war eine fähige Hexe. Aber das hier – das schaffte keine Zauberin alleine.
»Es ist instabil«, erklärte Lucian. »Daher das Flackern. Zumindest sagen das die Hexen. Beliar ging ein unkalkulierbares Risiko ein, als er diese Passage öffnete.«
»Und was ist mit den ganzen Leuten?«, fragte Ravenna. »Wissen sie, was sie da sehen?«
Sie zeigte auf die Menge, die sich am Fuß des Montmago versammelt hatte. Die Grasfläche war schwarz von Menschen. Eine riesige Zeltstadt breitete sich vor dem Tor aus, ein unübersichtliches Lager aus Planwagen, qualmenden Lagerfeuern, grasenden Zugtieren, Ritterzelten und flatternden Leinen.
Ravenna brach der Schweiß aus. Tausende Menschen hatten sich vor dem Haupttor der Pyrenäen versammelt. In der Nähe des instabilen Portals schwebten sie alle in Lebensgefahr. Aber Beliar scherte sich einen Dreck darum. In der Mitte des Lagers stolzierte er auf einem Podest auf und ab, auf einer Bühne wie für eine fahrende Schauspielertruppe. Beschwörend sprach er auf das mittelalterliche Publikum ein, riss immer wieder die Arme auseinander und schwenkte sie bei der Verkündung seiner Lügen – eine winzige Figur auf die Entfernung, doch unverkennbar in seinem schwarzen Umhang. Neben ihm stand Vadym. Die Russen hatten es also bereits geschafft. Dank der magischen Karte hatten sie das Haupttor der Pyrenäen gefunden.
Die Menschenmassen, der zerklüftete Berg, die Zwillingstürme und dazwischen das flackernde Tor … die Welt drehte sich um Ravenna. Hastig umklammerte sie das Sattelhorn.
Sie hatten nie eine Chance gehabt. Es war von Anfang an aussichtslos gewesen, den Montmago unentdeckt zu erreichen und durch das Tor zu fliehen. Geschickt hatte Beliar die Pilgerströme zwischen sie und das Hauptportal manövriert – die Pilger, den Grafen und seine Ritter, Vadym, seine Freunde, die Kopfgeldjäger und nun auch noch die Sieben. Die Menschen kampierten in Zelten oder hatten auf dem nackten Boden geschlafen, nur um diesen Augenblick mitzuerleben: den Höhepunkt der Teufelswette. Plötzlich verstand Ravenna, weshalb der Graue Löwe so aufgebracht war. Das hier war ein verdammter Aufstand.
»Und was jetzt?«, fragte sie. Sie wusste es wirklich nicht. Das hier war eine Nummer zu groß für sie.
Lucian musterte sie mit einem unergründlichen Blick. Sie konnte unmöglich sagen, ob
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