Tore der Zeit: Roman (German Edition)
war lediglich kalt geworden. Und nun war er hier.
Regen fiel auf seine Schultern und kühlte das Teufelsmal. Allmählich wurde der Schmerz erträglicher. Lucian nahm den Mantel von seinem Arm und ließ ihn achtlos auf die Brücke fallen. Passanten, die ihm entgegenkamen, wichen hastig auf die andere Seite aus.
Das Stahlgerüst des Turms ragte vor ihm auf. Wie eine Hand stützte es sich in das Pentagramm aus Blumenrabatten. Lucian blieb stehen. Das Tor unter dem Eiffelturm war aktiv.
Magie rauschte in den Himmel, sanfter und weit weniger bedrohlich, als es im Portal auf dem Montmago der Fall gewesen war. Der Strom sah aus wie weißer Rauch, der aus den Wiesen aufstieg und sich um das Gestänge schlängelte. Weiter oben wurden die Schwaden vom Wind davongetragen. Der Turm stand über einem gewaltigen Kraftfeld – vielleicht war er deshalb zu einem Symbol so vieler Liebender geworden.
Etwas hatte sich jedoch verändert. Der Park, die ganze Stadt kamen ihm düsterer, beinahe feindselig vor. Dann begriff er: Die Lichter am Eiffelturm waren ausgeschaltet. Die Stahlkonstruktion ragte wie ein schwarzes Gerippe in die Nacht. Noch immer drängten sich zahlreiche Menschen auf den Rasenflächen rings um den Turm. Aber sie wirkten weder ausgelassen noch fröhlich. Eine gereizte Stimmung lag in der Luft.
Lucian setzte sich wieder in Bewegung. Er ging an den Absperrgittern und Kassenhäuschen vorbei und betrat den Park. Überall waren die Spuren der großen Feier zu sehen, die hier stattgefunden hatte: Getränkedosen und Pappschachteln lagen auf dem Boden, Fähnchen steckten in den Blumenbeeten, und auf einen Abfallbehälter hatte jemand mit einem dicken, schwarzen Stift den Namen der Show geschrieben. Und durchgestrichen. Auf der Bank daneben lag ein Mann, der sich mit Zeitungspapier zugedeckt hatte. Er drehte Lucian den Rücken zu.
Kopfschüttelnd ging er weiter. Manche Dinge änderten sich offenbar auch in siebenhundert Jahren nicht.
Vor dem Turm stand ein Redner auf einer umgedrehten Kiste. Eine Traube von Menschen hatte sich um ihn versammelt. Der Mann schrie immer wieder: »Er ist unter uns! Der Fürst der Nacht ist gekommen! Deshalb bereut eure Sünden! Bereut, bevor es zu spät ist!«
Als Lucian eine Berührung am Arm spürte, zuckte er zusammen. Eine Frau lief neben ihm her und drängte ihm ein Schutzamulett auf, das aus Kork, Draht und roter Wolle gemacht war. »Ganz billig, fast umsonst«, flehte sie ihn mit einem schweren Akzent an. Als sie seinen blutigen Arm sah, prallte sie zurück.
»El hijo del diabolo!«, keuchte sie. Das Kind des Teufels.
»Ich suche ihn«, sagte Lucian. Er wischte sich über die Lippen, durstig und erhitzt. »Ich bin ganz sicher, dass er in diese Richtung gelaufen ist. Zum Tor. Zu diesem Turm.«
Als sie seine Stimme hörte, schlug die Händlerin ein magisches Zeichen und floh vor ihm. Ein Geist – in Ravennas Welt war er nicht mehr als ein Gespenst. Er wandte sich ab und ging weiter.
Weitere Redner hatten sich rund um das Pentagramm versammelt. Mit Abstand die meisten Zuhörer hatte ein Sprecher, der auf die unterste Sprosse des Turms geklettert war. Dort hielt er sich mit einem Arm fest und schwenkte ein langes Banner.
»Ich sage euch: Wir sind betrogen worden! Wir alle! Wir haben an Magie geglaubt. Nicht wahr, das haben wir?«
Durch die Menge ging ein aufgebrachtes Raunen als Antwort.
»Wir haben an das Gute geglaubt! An einen ehrlichen Sieg. Doch das Ende war total enttäuschend«, schrie der Mann. »Wir sind einem riesengroßen Schwindel aufgesessen. Habe ich nicht recht?«
Die Menge begann zu toben. Fäuste wurden in die Luft gereckt. Die Leute schoben sich vorwärts, trampelten einander auf den Füßen herum. Auch andere versuchten nun, in das Gestänge des Turms zu klettern. Jemand schnappte sich die Fahne und zog sich daran hoch. Einen Augenblick lang baumelten seine Beine in der Luft. Mit einem lauten Ratschen gab der Stoff nach, und der Kletterer stürzte auf die Leute unter ihm. Da erkannte Lucian, dass das Tuch die Farben und den Schriftzug des WizzQuizz trug.
In diesem Augenblick trat Velasco hinter einem Pfeiler hervor. Der Hexer von Carcassonne trug das Schwert aufrecht in der Faust. »Erkennst du, was deine Hexe angerichtet hat?«, fragte er ihn. »All diese Leute – sie sind wegen ihr hier. Wegen Ravenna. Wo sie auch auftaucht, stiftet sie Chaos und Verwirrung.«
Lucian antwortete nicht. Er versuchte einzuschätzen, wie gefährlich sein Gegner trotz der
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