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Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Tore der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Tore der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lea Nicolai
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sollte. Offenbar waren viele Gäste abgereist. Die meisten Zimmer im zweiten und dritten Stock waren dunkel. Nur in 313, der Suite der alten Dame, brannte Licht.
    Irgendwann musste Philippe sie bemerkt haben. Der Concierge kam zu ihr auf die Straße hinaus und legte ihr seine Jacke um die Schultern. Dann brachte er sie wortlos bis vor die Zimmertür. Ravenna war erleichtert, dass er keine Fragen stellte. Sie wusste nicht, ob sie die Fassung behalten konnte, falls er sich nach Lucian erkundigte.
    »Tun Sie mir einen Gefallen?«, murmelte sie, bevor sie ins Zimmer trat. Sie griff in ihre Tasche und zog ein Päckchen hervor. »Schicken Sie das zu Vanessa Chanterel von Kanal 5. Sie wissen schon. Die Hexe mit der Talkshow.«
    Philippe nickte. Kommentarlos ließ er den Gegenstand in seine Westentasche gleiten. Dann schloss er die Tür auf und ließ sie eintreten.
    Ravenna seufzte und griff wieder nach der Fernbedienung. In Kanal 5 lief ein Kulturjournal über einen berühmten Kabbalisten und Mystiker. Die Nachrichten berichteten über einen Zwischenfall in der Pariser U-Bahn, und in den anderen Programmen zeigte man einen Spielfilm, eine Reportage über den größten Menhir der Welt und eine Tiersendung. Kein einziger Sender brachte eine Zusammenfassung des WizzQuizz – nicht einmal der Kanal, der Beliars Show ausstrahlte. Ein seltsames Schweigen lastete über der ganzen Angelegenheit. Auch das Telefon klingelte nicht. Dabei waren nach der ersten Runde die Drähte heißgelaufen.
    Ravenna stützte die Schultern gegen das Kopfende des Betts und massierte sich die Schläfen. Beliar hat eine Nachrichtensperre verhängt, dachte sie. Eine Gewinnerin, die den Hauptpreis ablehnte, stellte natürlich auch den Spielmacher bloß. Sie hatte ihn in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht.
    Ravenna schauderte unwillkürlich, als ihr das klar wurde. Sie dachte an Beliars Gesicht, an den Ausdruck in seinen Augen, als sie sich für Yvonne entschied. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er seine Maske fallen lassen. Blanker Hass – das hatte sie aus seinen Zügen gelesen. Sicher hockte er in diesen Minuten irgendwo und sann auf Rache.
    An diesem Punkt kehrten ihre Gedanken zu der Tatsache zurück, dass ihr Leben nun ohne Lucian weiterging. Sie begriff nicht, weshalb ihr das unmöglich vorkam. Schließlich hatte sie zuvor viele Jahre – Jahrzehnte – ohne ihren Ritter gelebt und war zufrieden gewesen. Zumindest hatte sie geglaubt, sie sei zufrieden. Und manchmal sogar glücklich.
    Jetzt empfand sie gar nichts mehr. Sie spürte weder Enttäuschung noch Zorn, weder Hoffnung noch Erleichterung. Gefühle waren vollkommen überflüssig. Denn es gab niemanden mehr, mit dem sie sie teilen konnte.
    Es klopfte. Ravenna fuhr hoch. Erschrocken starrte sie zur Tür. Wer außer Philippe wusste, dass sie hier war? Sie hatte darauf geachtet, dass ihr niemand folgte. Sie war mehrmals abgebogen, hatte Seitenstraßen und unbeleuchtete Gassen benutzt und einen Umweg um den Jardin des Tuileries in Kauf genommen. Sie war sicher gewesen, dass niemand sie verfolgte, als sie zum Hotel kam.
    Das Klopfen wiederholte sich. »Zimmerservice«, sagte eine schüchterne Stimme.
    Es musste ein Irrtum sein. Sie hatte nichts bestellt. Sie wusste ohnehin nicht, wie sie die Rechnung bezahlen sollte. Eine Flut von Befürchtungen überkam sie.
    Es klopfte wieder. »Mademoiselle Doré. Bitte machen Sie auf.«
    Geh weg, dachte sie. Ihr Herz pochte. Bitte geh.
    »Ravenna.«
    Es war eine junge Stimme, hoch und unsicher. Eindeutig nicht Beliar. Sie schwang die Beine aus dem Bett und ging zur Tür. Der dicke Teppich kitzelte zwischen ihren Zehen. Sie öffnete nur einen Spalt, stemmte das Knie gegen den Rahmen. Für alle Fälle. »Ja?«
    Es war der Hotelpage. Er trug eine rote Uniform und balancierte ein Silbertablett vor sich. Der Teller verschwand unter einer riesigen, spiegelblank polierten Glocke. Daneben lagen eine Stoffserviette mit Serviettenring, Besteck, Weißbrot, ein Glas Rotwein und eine Schale mit karamellisierter Creme. In einer Vase stand eine rote Nelke.
    »Mit den besten Grüßen von unserem Empfangschef«, nuschelte der Page. »Er bittet Sie, sich nach dem Essen an der Rezeption zu melden.«
    »Ich habe kein Essen bestellt.« Was kostete ein Glas Wein in einem Pariser Hotel? Lieber nicht darüber nachdenken, beschloss sie.
    »Bitte.« Dem Pagen brach der Schweiß aus. »Ich darf unter keinen Umständen mit vollem Tablett zurückkommen. Sonst werde ich

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