Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Verwundung war. Velascos Hose war blutgetränkt. Konnte ein untoter Hexer Schmerzen empfinden?
Nervös schloss Lucian die Finger um Cors Griff. Die beiden begannen einander zu umkreisen, setzten jeden Schritt mit Bedacht. Ein Stolpern, ein Zögern im falschen Moment – die meisten Zweikämpfer starben aus Unachtsamkeit oder Zufall.
»Begreifst du denn nicht, wie wunderschön Beliars Plan war?«, fuhr sein Vater fort. »Eine kleine Gruppe von Auserwählten, die jederzeit an jeden Ort gehen können. Die Fürsten hätten der Geschichte der Menschheit einen ganz neuen Verlauf gegeben. Wir wären tatsächlich die Herren der Welt gewesen.«
»Du bist ja wahnsinnig.«
Velasco hielt inne. »So?«, fragte er. »Und wie nennst du das, was deine Hexe tut? Die Tormeisterin. Schau dich nur um – die Leute liegen ihr zu Füßen. Ravenna ist mächtig. Sie sieht es nur noch nicht. Und du dienst ihr. Du bist mir sehr ähnlich geworden, mein Sohn.«
Lucian ballte die Faust um den Schwertgriff. »Ich war dir noch nie ähnlich«, erwiderte er. »Weder heute noch irgendwann.«
»He, ihr da! Ihr zwei«, schrie der Wortführer mit der zerfetzten Fahne. »Seid ihr nicht auch meiner Meinung? Der Sender hat uns betrogen! Ich finde, wir sollten das Funkhaus stürmen und die da oben mal ordentlich wachrütteln!«
Wütendes Geschrei antwortete ihm.
Velasco lachte. Ohne Vorwarnung zuckte sein Schwert hoch, die Spitze zielte genau auf Lucian. Der Hexer trieb ihn zwei, drei Schritte vor sich her – dann konnte er Boden gutmachen und den Angriff zurückschlagen. Das Klirren der Schwerter ging im Lärm der Menge unter. Als er ausweichen wollte, prallte er gegen Leute, die ihm nicht rechtzeitig Platz machten.
»Weg da«, keuchte er. »Geht aus dem Weg!«
Er packte Cor beidhändig. Die Leute wichen nicht zurück. Stattdessen bildeten sie einen Kreis um sie. Leichtsinnige Gaffer fassten sich an den Händen. Feuerten sie an. Offenbar begriffen diese Menschen nicht, dass das kein Schaukampf war. Der Redner kletterte höher in den Turm. So hatte er freie Sicht auf das Schlachtfeld.
Lucian ließ Cor in einem flachen Bogen nach vorn wirbeln. Er drückte das Schwert seines Vaters mit Gewalt nach unten, zum Äußersten entschlossen. Lange hielt er nicht mehr durch. Er hatte kein Gefühl mehr in den Händen, sein Arm wurde lahm. Dieser Kampf dauerte bereits viel zu lange – seit Jahrhunderten.
Schweiß glitzerte auf dem Gesicht seines Gegners. Der Hexer bleckte die Zähne. Konnte man einen Mann töten, der bereits tot war?
»Lucian!«
Jemand in der Menge schrie auf, eine Hexe mit einer Haarfarbe, wie sie niemals in der Natur vorkam. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde er abgelenkt. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie Velascos Waffe auf ihn zukam. Er warf sich zur Seite, entging nur knapp der Klinge. Sie traf sein Schwert dicht unter dem Griff und schmetterte seinen Arm nach hinten. Ein Knochen knirschte. Der Schmerz schoss bis hinauf in sein Kiefergelenk.
Hastig wechselte er das Schwert in die linke Hand, griff fast daneben. Cors Heft war glitschig vom Schweiß. Oder war es Blut? Oft hing es von Kleinigkeiten ab, ob ein Mann einen Zweikampf für sich entschied – von einer losen Schnalle oder einer Polsterung, die im falschen Augenblick verrutschte. Dieses Duell würde er verlieren, das wusste er nun.
Die Menge stöhnte auf, als Velasco ihn erneut attackierte.
Das Tor von Paris
Paris, Februar 2012
Ravenna hatte die Vorhänge vor dem Fenster des Hotelzimmers zugezogen und ließ nur eine Nachttischlampe brennen. Mit nassen Haaren und in ein Handtuch gewickelt, saß sie auf dem Bett und zappte lustlos durch die Fernsehprogramme.
Minutenlang starrte sie auf den Bildschirm, bis sie merkte, dass sie von der Sendung im Grunde genommen nichts mitbekam. Und sie war dankbar dafür, nichts fühlen, denken oder tun zu müssen. Am liebsten hätte sie sich unter die Decke verkrochen, doch zum Schlafen – allein und im Dunkeln – fehlte ihr der Mut.
Es war dasselbe Zimmer, das sie mit Lucian bewohnt hatte. Sie hatte nicht gewusst, wohin sie sonst gehen sollte. Sie kannte niemanden in Paris, und die Unruhen in den Straßen machten ihr Angst. Auf dem Weg zum Hotel hatte sie brennende Autos gesehen. Barrikaden und wütende, mit Steinen bewaffnete Randalierer versperrten ihr den Weg. Sie wusste nicht, warum die Leute so aufgebracht waren. Nichts war mehr so wie früher.
Lange stand sie vor dem Hotel, unschlüssig, ob sie hineingehen
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