Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Hand glättete er sein Haar. »Offenbar ist es einem Teilnehmer gelungen, im Spiel zu bleiben. Ravennas Begleiter Lucian, verehrte Zuschauer, der seine Freunde zunächst davon abhielt, sich in das Tor auf dem Montmago zu stürzen, ist hier. In diesen Minuten kämpft er mit seinem Vater um die Krone der Hexenritter.«
»O Scheiße!«
Die Fernbedienung fiel zu Boden. Ravenna schnappte ihre Jeans, stieg hastig hinein und zerrte die Hose über ihre Hüfte. Gehetzt suchte sie die restlichen Kleider zusammen, verwünschte ihre Unordentlichkeit, als sie die Stiefel nicht finden konnte. Ein Schuh lag unter dem Bett, der andere stand hinter der Tür zum Bad. Mit bloßen Füßen schlüpfte sie hinein und zog den Reißverschluss hoch. Dann rannte sie in den Flur.
In der Lobby saßen nur wenige Gäste. Ein Mann las Zeitung. Als sie an ihm vorbeistürzte, drehte er sich entrüstet um. Der Empfangschef hinter der Rezeption rief ihr etwas nach. Ravenna achtete nicht auf ihn. Sie stieß die Glastür auf und lief auf die Straße.
Es gab zwei Brücken, die an dieser Stelle über die Seine führten. Sie entschied sich für die südlichere. Der Verkehr war dicht, Lichter glänzten auf der nassen Straße. Ravenna schwenkte beide Arme über dem Kopf, damit die Fahrer sie nicht übersahen. Als sie auf die Fahrbahn trat, ertönte ein scharfes Quietschen. Jemand hupte, aber sie achtete nicht weiter darauf.
Sie rannte in den Park. Diesmal hatten die Nachrichten nicht gelogen: Rettungslichter flackerten über das Gestänge des Turms. Sie hörte das Klirren der Schwerter und das Stöhnen der Zuschauer schon von Weitem. Ein weißes Kameralicht leuchtete über der Menge. Der Filmemacher hielt das Gerät hoch über seinen Kopf. Ein Mann in einem schmuddeligen T-Shirt klammerte sich an die Streben des Eiffelturms und beschwerte sich lautstark über die Anwesenheit der Medien.
»Lasst mich durch! Lasst mich vorbei!«, keuchte Ravenna. Sie zwängte sich zwischen den Leuten hindurch. Von Regenschirmen und Hüten tropfte Wasser auf sie. Sie hatte nicht einmal ihre Jacke mitgenommen.
»Ich bin Ravenna. Ravenna! Lasst mich durch!«
Die Umstehenden drehten sich um. Ein älterer Mann schimpf te, sie solle gefälligst nicht drängeln. Sie stieß dem Sprecher den Ellenbogen in den Bauch und zwängte sich an ihm vorbei.
Die beiden Männer, die unter dem Turm miteinander kämpften, waren sich so ähnlich, dass Ravenna sie im ersten Augenblick nicht unterscheiden konnte. Beide waren nass, verdreckt und bluteten aus mehreren Wunden. Sie hatten kaum noch die Kraft, die Schwerter zu schwingen. Dennoch droschen sie ohne Atempause aufeinander ein.
Jeder, der das sah, musste begreifen, dass es hier nicht länger um Beliars Wettspiel ging. Dieser Kampf währte nun schon mehr als siebenhundert Jahre. Wie es schien, würde er an diesem Abend zu Ende gehen – auf die eine oder andere Weise.
Lilith stand in der Menge der Gaffer ganz vorn. Die rothaarige Hexe hatte vermutlich jede freie Minute in dem Pariser Park verbracht, um das Freiluftfestival am Ende des WizzQuizz nicht zu verpassen. Als sie Ravenna entdeckte, riss sie die Augen auf. Ihr Mund öffnete sich, und dann fuhr sie zu den beiden Widersachern herum.
»Lucian!«
Er hörte ihren Schrei, drehte den Kopf – und Velascos Schwert krachte so hart gegen das seine, dass sein Unterarm nach hinten gebogen wurde. Die Menge zuckte beim Geräusch der knackenden Knochen zusammen. Eine Woge der Übelkeit erfasste Ravenna.
Sie boxte sich bis zu der rothaarigen Hexe durch. Lucian besaß noch den Nerv, das Schwert in die andere Hand zu nehmen. Aber er schwankte bereits, als Schock und Schmerz einsetzten. Der rechte Arm hing in einem unnatürlichen Winkel herab.
Velasco holte aus.
»Cor!«, schrie Ravenna. »Lucian, es ist Cor! Cor magyca!« Setz dein Herz ein, verdammt!
Er zuckte zusammen, und sie bekam einen Riesenschreck, da sie ihn abgelenkt hatte, wie Lilith vorhin. Das konnte ihn das Leben kosten.
Doch dann warf Lucian sich plötzlich nach vorn und tauchte sein Schwert in den Strom. Die Klinge wurde lebendig, als sie die Magie berührte, die unter dem Eiffelturm aufstieg. Die Spiralen wirbelten auf. Licht floss über den Stahl und bildete eine helle Spitze, greller als ein Stern.
Weiße Magie.
Lucian bewegte sich so schnell, dass das Auge nicht folgen konnte. In einer fließenden Bewegung zog er das Schwert durch. Von rechts kommend, drang die Klinge zwischen Ohr und Kragen in den Hals des
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