Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Hexers.
Der Kristall, den Velasco an einer Goldkette trug, explodierte. Scherben spritzten durch den Park. Manche zersplitterten an den Stahlstreben des Turms, andere flogen in die Menge. Die Leute schrien, duckten sich. Velascos Körper fiel unter der Leuchtspur Cors, die noch sekundenlang in der Luft glühte. Das Haupt des Hexers rollte jedoch nicht zu Boden. Auch ohne Körper schwebte der Schädel in der Luft, von unsichtbaren Fäden getragen.
Die Anwesenden stöhnten auf. Viele machten bei diesem Anblick kehrt und flohen aus dem Park. Andere rückten noch näher, wollten keinen Moment verpassen. Der Kameramann fluchte, als die Menge gegen ihn drängte. Die ersten Zuschauer erreichten bereits die Hauptstraße.
Velasco schlug die Augen auf. Sie schwelten wie zwei Brocken Glut. »Es ist vorbei, mein Sohn. Nicht wahr? Vorbei. Ich habe die Wette mit dem Teufel verloren.«
Ravenna presste die Hand auf den Mund. Beim Sprechen lief dem Hexer Blut über die Lippen. Wer es bis zu diesem Zeitpunkt unter dem Turm ausgehalten hatte, floh beim Klang der heiseren Geisterstimme.
»Es ist vorbei«, bestätigte Lucian. »Zumindest für dich. Dich trifft nun die gerechte Strafe für einen Königsmörder. Und für den Mord an Maeve.« Die Hand mit dem Schwert zitterte. Cors Spitze berührte den Boden. Lucians Haare waren vom Regen tropfnass. Sein rechter Arm schwoll sichtlich an.
»Ich nehme an, du bist jetzt zufrieden«, murmelte Velasco mit halb geschlossenen Augen. »Du hast lange auf diesen Augenblick gewartet. Aber sei dir über eines im Klaren: Deinen Sohn wirst du nicht retten. Der Junge hat die dunkle Gabe geerbt, die seit Generationen in unserer Familie weitergegeben wird.«
Unwillkürlich zuckte Lucians Hand, die das Schwert hielt. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete Ravenna, er werde den Kopf in zwei Hälften hauen.
Der Hexer lächelte. »Von jetzt an wirst du dich immer fragen müssen: Was wird aus ihm? Wird der Junge so wie du? Oder so wie ich?«
Gequält schaute Lucian über die Schulter zu Ravenna. »Yvonne. Wo ist sie? Ist sie in Sicherheit?«
Ravenna nickte.
»Und das Kind?«
Sie trat neben ihn, umfasste das unverletzte Handgelenk und drückte beruhigend zu. »Alles wird gut«, raunte sie. »Wenn wir deinen Vater jetzt entlassen.«
Sie wandte sich an Velascos schwebenden Schädel. »Ich verzeihe dir. All die Untaten in deinem Leben, die Verbrechen und die Grausamkeit – Lucian schafft das nicht. Das ist verständlich. Aber ich kann das. Vielleicht findest du dann Ruhe und musst nie mehr zurückkehren. Velasco, genannt die Krähe, Schlossherr von Carcassonne, ich verzeihe dir alles, was du meinem Gefährten und mir und allen anderen angetan hast. Und jetzt … sei gebannt.«
Sie schrieb ein magisches Zeichen in die Luft. Eine umgedrehte Vier.
Velasco brüllte auf. Seine Augen loderten heller. Ein glühender Rand fraß sich durch seinen Schädel, zerstörte die Stirn und erleuchtete die Mundhöhle. Dieser Anblick sollte Ravenna bis in den Schlaf verfolgen. Aber sie schaute nicht weg. Der Kopf des Hexers löste sich vor ihren Augen auf. Rauchschwaden wehten um den Fuß des Eiffelturms. Dann war es vorbei.
»Das Schwert. Nimm das Schwert.«
Lucians Stimme war ein heiseres Flüstern. Die Klinge zitterte unkontrolliert. Er stand breitbeinig da, ein Seemann an Land, der um sein Gleichgewicht kämpfte. Ravenna löste das Heft aus seinen starren Fingern und schob Cor zurück in die Scheide. Das Hemd klebte an Lucians Schultern. An seinem Körper gab es kaum eine Stelle, die unverletzt war.
Suchend blickte sie sich um. Velascos Körper war verschwunden, ebenso wie der Schädel. Die Winterwiese dampfte.
»Slæpanier« , sagte sie leise. Sie hatte noch nie zuvor ein Tor geschlossen – zumindest nicht mit Absicht. Doch es ging überraschend leicht. Das Wort der Hexensprache tauchte einfach in ihrem Kopf auf und wollte ausgesprochen werden. Sie streckte beide Hände aus, spürte, wie der Strom kühl um ihre Finger strich.
»Slæpanier« , wiederholte sie. »Tor, schließe dich.«
Das Rauschen hörte auf. Flackernd gingen die Lichter am Turm an. Der Aufzug summte ohne Fahrgäste nach oben. Von irgendwoher wehte Kirmesmusik.
Ravenna schloss die Augen. Hinter ihren Lidern funkelte das Farbenspiel in Rot und Weiß, die gewöhnliche Beleuchtung, die Touristen zu dem Pariser Wahrzeichen lockte.
Da spürte sie, wie sich Lucian in Bewegung setzte. Steif humpelte er zu der Stelle, an der sein Vater zu Boden
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