Tore der Zeit: Roman (German Edition)
Menschen, die völlig gewöhnlich aussahen. Ausgerüstet mit Regenjacken, Stadtplänen und Rucksäcken, beobachteten sie die Demonstrationen mit ungläubigem Staunen. Ahnungslose Touristen, die durch Zufall in den Trubel auf dem Boulevard geraten waren. Schattenseelen.
Ravenna rieb die Hände aneinander. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Auf diese Situation war sie nicht vorbereitet.
Da geschah etwas. Ein schriller Pfiff ertönte. Als hätten sie auf dieses Zeichen gewartet, rissen alle Anwesenden die Arme hoch und gingen einen energischen Schritt nach vorn.
»Eins: Du sollst weinen!«, brüllte die Menge.
Ravenna zuckte zusammen, so heftig war der Kraftstoß. Als die magische Welle das Sendehaus traf, zitterten die Fensterscheiben. Angstvoll wichen die Menschen im Foyer zurück.
»Was soll das? Was geschieht hier?«, fragte Lucian halblaut. Wachsam schirmte er sie ab, hatte den Arm oder das verhüllte Schwert immer irgendwie zwischen ihr und den Dränglern.
»Kommt mit!«, rief Ravenna ihren Begleitern zu. »Los, Beeilung!«
Ihr Herz pochte heftig. Beliar, der Sender und sämtliche Menschen in dem Gebäude wurden gerade verflucht.
Ein Filmteam heftete sich an die Fersen der Hexe von Kanal 5. Offensichtlich hatte man Vanessas Ankunft am Funkhaus bereits erwartet.
»Da ist Lilith«, keuchte Ravenna. »Siehst du sie?«
Lucian nickte. Die rothaarige Hexe stand in der Menge. Als eine der wenigen klatschte sie nicht im Takt und stampfte auch nicht auf den Boden. Sie stand einfach nur da und wartete ab, was als Nächstes geschah.
Wieder ertönte der Pfiff. Ein weiterer Schritt. Ein tausendfaches Heben der Hände. Und ein Schrei.
»Zwei: Du sollst fürchten!«
Ravenna ächzte, als ihr die magische Druckwelle den Atem aus den Lungen presste. Die Fensterscheiben knackten bedrohlich. Lange Risse entstanden, die wie Spinnennetze über das Glas liefen. Die Angestellten im Foyer des Senders rannten in Panik durcheinander.
Ravenna brach in kalten Schweiß aus. Diese Art von Fluchzauber war ihr gänzlich unbekannt. Magie aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Sie zwängte sich an den Leuten vorbei und rannte die Stufen vor dem Eingangsbereich hinauf. Vanessa und die Kamera begleiteten sie.
»Aufhören!«, schrie sie. »Hört sofort auf damit! Seid ihr denn wahnsinnig? Ihr bringt diese Leute in Gefahr! Und euch selbst auch!«
Ihre Stimme ging in der Unruhe unter. Die Menschenmenge bewegte sich wie ein Ungetüm mit tausend Köpfen.
Mit dem stumpfen Schwert bahnte Lucian ihr einen Weg. »Endlich begreifen die Leute, was Beliar getan hat«, knurrte er. »Und sie verlangen Gerechtigkeit.«
»Das ist keine Gerechtigkeit. Das ist Schadenszauber. Eigentlich solltest du empört sein«, stieß Ravenna hervor.
Unter dem Vordach stand die Menge besonders dicht gedrängt. Die Luft war zum Schneiden.
»Beliar kriegt bloß, was er verdient«, erwiderte Lucian. »Im Grunde hat er sich selbst verraten. Die Wahrheit ist eine mächtige Waffe. Vor allem, wenn sie im Fernsehen ausgestrahlt wird.«
»Was er verdient!« Mit der flachen Hand schlug Ravenna sich vor die Stirn. »Aber natürlich! Darum geht es hier! Die Hexen aus meiner Zeit rufen das …«
In dieser Sekunde gellte der Pfiff zum dritten Mal. Die Magier und Hexen auf dem Boulevard Saint-Germain machten den letzten Schritt. Tausende Arme reckten sich empor. Die Handflächen waren mit magischen Zeichen bemalt. Die Münder öffneten sich.
»Drei«, schrie Ravenna, so laut sie konnte. »Du sollst ungeschoren davonkommen!«
Empört fuhren die Leute in ihrer Umgebung zu ihr herum. Der Schrei erstarb ihnen auf den Lippen. Weiter hinten wurde der Fluch jedoch vollendet. Die Luft unter dem Vordach verdichtete sich wie dicker, dunkler Ruß. Jeden Augenblick konnten die Scheiben platzen.
»Ravenna!«, schrie plötzlich jemand. »Das da oben ist Ravenna!
Die Menge vor dem Sendehaus geriet ins Stocken. Das Trommeln und Pfeifen brach ab. »Ravenna!«, brüllte jemand. »Sie ist hier! Sie protestiert mit uns!«
Unzählige Handys und Kameras wurden in die Höhe gereckt. Blitzlichter flammten über den Köpfen auf, ein stummes Gewitter in der Morgendämmerung.
»Ja, ich bin hier«, rief sie der Menge zu. »Ich werde jetzt ins Funkhaus gehen und mit Beliar reden. In Ordnung? Ich rede mit ihm. Und ihr werdet nichts unternehmen, bis ich wieder da bin. Ihr werdet ihn und den Sender nicht verfluchen!«
Es war wie gegen das Brüllen des Ozeans anzuschreien. Verzweifelt
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