Tore der Zeit: Roman (German Edition)
glaube, ich hätte jetzt lieber meine Ruhe. Keine Talkshows, keine Interviews. Ich habe in den letzten siebenhundert Jahren noch keine Minute geschlafen.«
Vanessa beugte sich zum Fenster. »Vertrauen Sie mir! Fahren Sie ein Stück mit. Ich muss Ihnen unbedingt etwas zeigen. Sie entscheiden dann, wie es weitergeht.«
»Das ist ja mal ganz was Neues«, murmelte Ravenna. Sie drehte sich zu Lucian um. »Wir könnten die Métro nehmen. Das Hotel ist nur drei Stationen von hier entfernt.« Dass sie dabei ans Schwarzfahren dachte, verriet sie nicht.
»Nein«, sagte Lucian schnell. »Keine Métro. Keine Tunnel. Eher würde ich zu Fuß gehen. Außerdem möchte ich wissen, was Vanessa uns zeigen will.«
Ravenna zögerte. Sie wandte sich wieder an die Moderatorin. »Haben Sie bekommen, was ich Ihnen geschickt habe?«, fragte sie.
Vanessa nickte. »Genau darum geht es. Nun kommen Sie schon. Ein stehendes Taxi kostet schließlich auch Geld.«
Das konnte der indische Fahrer nur bestätigen.
»Na dann«, seufzte Ravenna. Lucian öffnete ihr den Wagenschlag und ließ sie einsteigen. Anschließend zwängte er sich neben sie, etwas umständlich wegen seines geschienten Arms. Der Fahrer startete den Motor.
Ravenna schob die Trennscheibe zur Seite, damit sie mit der Beifahrerin sprechen konnte. »Dann war Philippe also bei Ihnen?«
Die Talkmasterin nickte. »Er gab mir die Minikamera, die Sie während der letzten Runde bei sich hatten. Die meisten Aufnahmen sind allerdings nicht zu gebrauchen. Unscharf oder verwackelt. Als Filmemacherin haben Sie definitiv kein Talent.«
Ravennas Hoffnung sank. Natürlich, dachte sie. Die Bemerkung des Kameramanns unter dem Eiffelturm fiel ihr ein: überbelichteter Nebel. Offenbar ließ sich magisches Wirken nicht ohne Weiteres auf ein Filmmedium bannen. Von Velasco auf dem Turm der Hexen war vermutlich nicht mehr zu erkennen als grelles Sonnenlicht und das Funkeln von Terra magyca. In diesem Fall gab es keinerlei Beweise für den Mordanschlag auf den König.
»Eine Sequenz konnten wir allerdings ausstrahlen«, fuhr Vanessa fort. Sie schaute Ravenna forschend in die Augen. »Ich weiß wirklich nicht, wie Sie das ausgehalten haben. Als wir das Material gesichtet haben, waren wir alle richtig geschockt.«
Ravenna nagte an ihrer Unterlippe. Sie war sich nicht sicher, worauf Vanessa anspielte. Die winzige Kamera war eine ganze Weile mitgelaufen – seit Claude und Thierry ihr das Gerät überlassen hatten. Nur im Turm der Hexen hatte sie es ausgeschaltet.
Sie lehnte sich zurück. Das Taxi fuhr soeben am Arc de Triomphe vorbei. Eine Gruppe von Demonstranten hatte sich unter dem Denkmal versammelt. Einige Waghalsige waren auf den Triumphbogen geklettert und hatten ein Transparent entrollt. Beliar Le Malfaiteur, stand darauf.Beliar, der Übeltäter.
Überrascht beugte sich Ravenna zum Fenster. »Hast du das gesehen?«, raunte sie Lucian zu. »Gerade eben auf dem Platz. Jetzt sind wir schon vorbei.«
Der junge Ritter nickte. Aufmerksam beobachtete er die Menschen, die am Rand der Fahrbahn entlanggingen. Fäuste wurden geschwenkt, weitere Poster in die Höhe gereckt, mit Aufschriften wie: WizzQuizz = Beschiss! Weg mit der Show! Immer wieder las Ravenna ihren Namen. Dabei war es noch nicht einmal sechs Uhr früh. Der Himmel über Paris war noch dunkel.
»Du liebe Güte. Was passiert denn da?«, flüsterte sie.
Vanessa hielt sich an der Lehne des Sitzes fest und schaute nach hinten. »Wir strahlen den Mitschnitt mit Ihren Aufnahmen bereits aus«, erklärte sie. »Seit heute Nacht um vier läuft der Beitrag jede Viertelstunde. Seitdem sprengen unsere Einschaltquoten jede Vorstellung. Pausenlos rufen Leute an und fragen, ob es wahr ist, was wir da zeigen. Unsere Leitungen sind total überlastet. Und in meinem Blog … oh ja, ich habe einen eigenen Blog. In meinem Blog geht es nur noch darum, was Ihnen und Lucian passiert ist. Alle anderen Sender haben inzwischen nachgezogen und strahlen ihren eigenen Bericht zu dem Thema aus. Mittlerweile weiß es das ganze Land.«
Ravenna atmete flach. Ihr wurde flau im Magen. »Was denn für einen Beitrag? Worum geht es eigentlich?« Sie hatte Vanessa fast fünfzig Stunden selbstgedrehtes Filmmaterial überlassen.
Die Talkmasterin von Kanal 5 tippte das Smartphone an und reichte es nach hinten. Ravenna hielt das Gerät so, dass auch Lucian etwas erkennen konnte.
Vanessa hatte das Video im Internet aufgerufen. Es war über drei Millionen Mal angeklickt worden.
Weitere Kostenlose Bücher