Tore der Zeit: Roman (German Edition)
du dich sofort zu erkennen. Ein stummer Angreifer im Dunkeln bekommt keine zweite Chance.«
»Du warst zu langsam«, blaffte der Magier, als ginge es noch immer um einen Wettstreit. In einem Zug stürzte er das Wasser herunter. Dann knöpfte er das Hemd auf und warf sich stolz in die Brust. »Hier, siehst du? Kein Kratzer! Außerdem … wenn ich geschrien hätte, hätte Beliar gewusst, wo ich war. Ich bin doch nicht lebensmüde.«
»Stattdessen lässt du Ravenna ins offene Messer laufen.«
»Hört auf!« Ihre Stimme war lauter als beabsichtigt. Die beiden Streithähne schauten sie an.
Seufzend stützte Ravenna den Kopf auf die Hände. »Wie hat Beliar das gemacht? Das Verschwinden, meine ich. Das glitzernde Licht. War da wirklich ein Tor? Mitten im Studio?«
Vadym rieb sich den Nasenrücken. Dann stand er auf und stieg zu den Sitzplätzen des Moderators und seiner Kandidaten hinab. Er trug noch immer den staubigen Gehrock aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sorgfältig suchte er den Fuß der Mittelkonsole ab.
»Beliar hat recht«, murmelte Ravenna leise. »Wir haben unsere Freunde verloren. Nichts auf der Welt kann das wieder wettmachen. Es tut mir wirklich leid, Lucian.«
Er stützte einen Arm auf das Geländer und beobachtete den Russen. »Beliar weiß nicht alles«, entgegnete er. »Kurz bevor Vadym und ich in deine Welt zurückkehrten, sprach ich mit Marvin. Der Späher ändert seine Meinung zwar, wie der Wind weht, aber ich konnte ihn vielleicht davon überzeugen, dass er Diego aufsucht.«
Er schaute sie an. Sein Gesicht war bleich und von einem Bartschatten umrahmt. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. »Du weißt schon: Diego, den Jäger. Meinen einzigen Freund in Carcassonne.«
Ravenna nickte. In diesem Augenblick schien Vadym auf etwas gestoßen zu sein. Er kniete sich auf den Boden, öffnete ein kleines Fach in der Konsole und griff hinein.
»Wie seid ihr eigentlich zurückgekehrt?«, fragte Ravenna. »Vadym und du – ich war mir sicher, das Tor auf dem Montmago war zusammengebrochen.«
Lucian nickte. »War es auch«, seufzte er. Und sprach nicht weiter, als der russische Magier mit einem Würfel in der Hand auf die Zuschauerränge zurückkehrte.
Erstaunt betrachtete Ravenna den Fund. Der Würfel war etwa faustgroß. Die Kanten strahlten ein schwaches Licht ab. Der Würfel hatte drei schwarze und drei weiße Seiten. Auf den hellen Flächen standen schwarze Buchstaben: ein S, ein U, und ein V. Die gegenüberliegenden Flächen waren weiß beschriftet: H, minus S und minus P. Es ergab absolut keinen Sinn.
»Was ist das?«, fragte sie. »Mystische Mathematik?«
Vadym nickte. »Das ist ein Guggenheim-Würfel«, erklärte er. »Wir haben so ein Ding benutzt, um aus Sankt Petersburg zu fliehen. Es eignet sich für kleine Sprünge. Winzige Sprünge, gemessen an dem, was du zustande bringst.«
Er reichte ihr das Artefakt. In seinen Augen las sie so etwas wie schelmische Bewunderung.
Verlegen nahm sie den Würfel. Er war sehr kalt. »Und wie funktioniert das? Willst du mir damit sagen, dass man ein Tor berechnen kann?«
Wieder nickte Vadym. »Mit einem Guggenheim-Würfel lassen sich die thermodynamischen Potenziale des Tors beeinflussen. Temperatur, Volumen, Enthalpie – es würde ziemlich lange dauern, dir das jetzt zu erklären. Der Rest sind einfache Gleichungen. Magische Mathematik.«
Sie musterte ihn. »Du bist also so etwas wie ein Genie.«
»Nein.« Vadym blieb ernst. »Cezlav war der Rechenkünstler von uns. Ich war bloß derjenige, der die Ideen entwickelte. Der Anstifter. Und ein Blödian.« Er seufzte.
Nachdenklich gab ihm Ravenna den magischen Würfel zurück. »Damit könntest du in deine Welt zurückkehren«, meinte sie. »Nach Sankt Petersburg. Du, Semyon, Vasily und all die anderen – jetzt müsst ihr nicht mehr in Paris bleiben.«
Vadym verzog das Gesicht. »Ohne Cezlav? Das ist zu tragisch. Ich wäre allein, und alle würden mich bedauern.« Dann hellte sich seine Miene auf. »Wo bist du eigentlich rausgekommen?«, wandte er sich an Lucian. »Ich musste bis La Muette laufen. Linie 9. Aber – egal. Das Wichtigste ist doch, dass es geklappt hat. Eine Chand wäscht die andere, nicht wahr?«
»Eine Chand«, seufzte Lucian. »Ganz genau.«
Das Medium kam zu ihnen auf die Tribune. Statt des Hexenbretts trug die Kleine einen Stapel Papier unter dem Arm. Die kurzen Zöpfe standen wirr von ihrem Kopf ab. Sie machte den Eindruck, als hätte sie eine Woche lang nicht
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