Tore der Zeit: Roman (German Edition)
in seine Tasche zu greifen und ihren Hexenring hervorzuziehen, um den Schatz dann gefährlich weit über die Brüstung zu halten.
»Kommt herauf und bringt den Koffer mit«, befahl Vadym. »Die Kamera bleibt diesmal draußen.«
Der letzte Satz war an den jungen Filmemacher gerichtet, der sich endlich aufgerafft hatte. Der Angesprochene schniefte verächtlich. »Was denkt der denn, wer er ist?«, fragte er. »Schließlich bezahlt mich der Sender, wenn ich das aufnehme.«
»Vadym ist ein russischer Taschenspieler«, erwiderte Ravenna missmutig. »Und ich wette, das wird jetzt sein bester Trick.«
Als der Summer ertönte, drückte sie die Tür auf und ließ Lucian zuerst eintreten. Dann schlüpfte sie ins Treppenhaus und schlug dem Kameramann die schwere Pforte vor der Nase zu.
Endlich! Sie atmete auf. Sie hatten die Crew des Senders abgehängt. Die nächsten Minuten gehörten nur ihnen allein.
Lucian stieg vor ihr die gewundene Treppe hinauf. Er ging schleppend und wirkte ungewohnt kraftlos. Sie folgte ihm. »Bist du sicher, dass dir nichts fehlt?«, flüsterte sie besorgt.
»Mach dir um mich keine Sorgen«, erwiderte ihr Ritter. »Dass dieser Kerl dein Siegel hat – das sollte dich beunruhigen. Wo warst du bloß so lange? Ich dachte, du wolltest den Dieb fangen.«
»Ich …« Ravenna verstummte und schluckte, als sie an die Begegnung mit der Greisin dachte. Im oberen Stockwerk hörte sie bereits Vadyms Freunde, die sich auf Russisch zankten.
»Ich dachte, ich hätte Mavelle gesehen«, erklärte sie. »Aber dann war es doch jemand anderes – eine sehr alte Hexe. Sie sagte zu mir, bald werde etwas geschehen …« Wieder brach sie ab und schüttelte den Kopf. Sie wollte Lucian nicht beunruhigen.
Auf dem nächsten Treppenabsatz blieb ihr Ritter stehen und legte die Hand auf das Geländer. Ravenna hielt sich dicht hinter ihm. Sie war froh, dass er sie durch dieses dunkle, muffige Pariser Treppenhaus begleitete.
Nur ein schmaler Streifen Licht fiel in den Flur. In der offenen Wohnungstür standen Vadym und seine Freunde. Die Russen waren in glänzende Morgenmäntel gehüllt und trugen kostbar verzierte Pantoffeln an den Füßen. Manche hielten Zigarettenspitzen zwischen den Fingern, in denen krumme, selbstgedrehte Kippen steckten. Im Gegenlicht der hohen Fenster wirkten Vadyms Freunde etwas zerzaust. Ihre messinggelben Augen glühten.
»Ihr kommt genau richtig«, grinste Vadym und stieß die Tür ein Stück weiter auf. »Wir feiern gerade eine Party.«
Zögernd betrat Ravenna die Wohnung. Es war ein Altbau mit hohen, stuckverzierten Decken, Parkettboden und Flügelfenstern, die bis zum Boden reichten. Bis auf einen gusseisernen Tisch war der Raum leer.
»Ist es euch denn hier nicht kalt genug?«, fragte sie fröstelnd. Sämtliche Fenster waren geöffnet und ließen eisige Luft einströmen. Lucian blieb wachsam in ihrer Nähe. Er achtete darauf, dass keiner von Vadyms Freunden in ihre Nähe kam, solange sie den begehrten Koffer trug.
»Es geht«, erwiderte der Magier gedehnt. »Die Luft ist nicht so frisch wie in Sankt Petersburg. Möchtet ihr auch etwas essen?«
Misstrauisch musterte Ravenna den Tisch. Dort standen Champagnergläser, ein Sektkühler und mehrere leere Flaschen sowie eine riesige Platte, auf der sich Eierkuchen türmten. Daneben reihten sich Schälchen mit Kaviar. Bei diesem Anblick lief ihr unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen. Allerdings, sie war wirklich hungrig. Von einer einzigen Brioche wurde man schließlich nicht den ganzen Tag satt.
»Was gibt’s zu feiern?«, fragte sie kühl, während sie zusah, wie Vadym einen Pfannkuchen dick mit lachsfarbenem Kaviar bestrich, ihn zusammenrollte und ihr reichte. Behutsam nahm sie die warme Köstlichkeit entgegen. »Das Quiz gestern Abend hast du jedenfalls verloren.«
»Die erste Runde – ja. Aber cheute spielen wir weiter.« Vadym taxierte sie mit einem langen Blick. Dann wandte er sich an Lucian. »Willst du auch etwas?«, fragte er.
Lucian hatte die Prozedur mit gerunzelter Stirn verfolgt. Nun schüttelte er den Kopf. »Bist du sicher, dass du das essen solltest?«, wollte er von Ravenna wissen. »Was ist das überhaupt? Es sieht ekelhaft aus.«
»Rohe Fischeier. Sie gelten als Delikatesse«, erklärte sie kauend. »Vor allem wenn man aus Sankt Petersburg kommt.« Sie ließ Vadym nicht aus den Augen. Von ihm wollte sie sich nicht einschüchtern lassen.
Der Magier nahm sein Sektglas und flanierte durch den Raum. Wie Leibwächter
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