Torso
verfolgen. Sinas Vermutung zeigte ihm wieder einmal, dass er im Grunde noch immer in dem untergegangenen Land lebte und in diesem hier, wo es keinerlei Grenzen des Denkbaren zu geben schien, nie ganz ankommen würde.
»Niemand im Großraum Berlin vermisst übrigens eine Ziege oder ein Lamm«, unterbrach Sina das Schweigen. »Jedenfalls hat bisher niemand ein Tier als vermisst gemeldet. In den Zoos fehlt nichts. Die Domänen im Umkreis haben wir auch angerufen. Fehlanzeige.«
»Tierheime?«
»Haben wir auch kontaktiert, obwohl die solche Tiere nur selten haben. Ohne Ergebnis. Ich denke, wir sollten warten, bis Dr. Weyrich uns sagt, was für eine Ziege das ist. Und was für ein Lamm. Das grenzt die Suche ein.«
»Hoffen wir’s mal«, hörte er sich sagen.
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9
A ls sie zurückkamen, hatte Dr. Weyrich eine ungefähre Altersschätzung des Lichtenberger Torsos und die mutmaßliche Todesursache durchgegeben: Tod durch Ertrinken. Zollanger gab die Suchparameter »weiblich« und »fünfundzwanzig bis neununddreißig Jahre« alt ein und war froh, dass das System die Fälle vermisster Kinder und Jugendlicher automatisch herausfilterte. Es war eine dieser Fragen, auf die man manchmal bei einem Bier nach Feierabend zu sprechen kam. Für Zollanger war die Entscheidung immer klar gewesen. Vor die Wahl gestellt, den Tod oder das spurlose Verschwinden einer geliebten Person verarbeiten zu müssen, wählte er immer den Tod. Gewissheit konnte man verarbeiten. Ungewissheit war Folter, eine der grausamsten Foltern, die er sich vorstellen konnte. Deshalb hasste er die Vermisstenkartei, diese vom Teufel abgehackten Kurzbiographien.
Der damals Dreizehnjährige begleitete seinen Freund gegen siebzehn Uhr zur Bushaltestelle Seestraße und ist seither verschwunden.
Das damals vierjährige Mädchen spielte vor dem Haus der Großeltern und verschwand zwischen elf und zwölf Uhr.
Solche Sätze konnten ihm die Tränen in die Augen treiben. Die Ohnmacht. Die Sinnlosigkeit. Die Brutalität. Das war das Schlimmste.
Bei den Erwachsenen waren seine Gefühle ähnlich, aber es wühlte ihn nicht so sehr auf wie die Fälle der Kinder. Man konnte davon ausgehen, dass wenigstens manche dieser Personen ihre Spuren selbst verwischt hatten. Die meisten anderen waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen. Die Ungewissheit war auch hier gegeben, aber sie löste sich mit den Jahren in der wahrscheinlicheren Gewissheit auf, dass die Person schon lange nicht mehr am Leben war.
Die erste Abfrage aus dem Bundesgebiet ergab sieben Treffer. Wie weit sollte er zeitlich zurückgehen? Wann war die Frau, die sie gestern gefunden hatten, ihrem Mörder begegnet? Denn Sinas originelle Hypothese hatte er bereits auf dem Rückweg ins Dienstgebäude wieder verworfen. Sie hatten es bestimmt mit einem Gewaltverbrechen zu tun, und sei es auch mit einem untypischen. Wenn die Frau vor weniger als vier Tagen verschwunden war, konnte die Kartei sie noch gar nicht erfasst haben, denn da achtzig Prozent aller Vermissten sich nach ein paar Tagen von selbst wieder einfanden, erfasste man die Fälle nicht sofort. Außerdem war denkbar, dass die Frau noch gar nicht vermisst wurde. Es konnte sich um eine ausländische Touristin handeln. Oder eine Person ohne soziale Einbindung. Oder ein Opfer aus dem florierenden Geschäftszweig Frauenhandel. Es gab so viele Möglichkeiten. Die Frau war ertrunken. Ertrunken oder ertränkt worden?
Die Datenbank gab nicht viel her. In Berlin war in den letzten Monaten niemand verschwunden. Der letzte, vor sechs Wochen gemeldete Fall betraf eine sechsundzwanzigjährige Frau aus dem Raum Augsburg. Alle anderen Eintragungen lagen noch weiter zurück. Zollanger druckte die Liste mit den sieben vermissten Frauen der letzten achtzehn Monate aus und legte sie auf dem Schreibtisch ab. Dann meldete sich Thomas Krawczik am Telefon.
»In den Krankenhäusern fehlt niemand«, berichtete er. »Ich habe auch die wichtigsten Bestattungsunternehmen durch. Dort vermisst niemand eine weibliche Leiche.«
»Gut. Hat sich in Lichtenberg noch irgendetwas ergeben?«
»Nein. Und ich wage auch nicht zu raten, was er als nächste Deponie auswählen wird. Wenn es denn der gleiche Täter ist.«
»Darüber zu spekulieren ist wohl etwas früh«, sagte Zollanger.
»Wieso? Er hat noch einen Arm, zwei Beine und den Kopf. Und vielleicht späht er gerade Nachschub aus.«
»Dann können wir es auch nicht ändern«, sagte
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