Torso
Hilger.«
Sie schob ihm die blaue Plastikmappe hin. »Hier steht drin, was in Ihrem Protokoll alles fehlt. Und noch einiges mehr. Punkt für Punkt. Bitte lesen Sie es. Und dann sagen Sie mir, was ich tun kann.«
Er schaute kurz auf die Mappe, rührte sie aber nicht an.
»Können Sie mir ein Beispiel nennen, was fehlt?«
»Zum Beispiel eine plausible Erklärung dafür, wie mein Bruder mitten in der Nacht in den Tegeler Forst gekommen sein soll?«
»Mit einem Taxi. Oder mit dem Bus. Oder vielleicht auch zu Fuß. Vielleicht hat ihn jemand mitgenommen.«
»Es wurde kein Fahrschein bei ihm gefunden. Keine Geldbörse. Keine Schlüssel und keine Papiere. Finden Sie das normal?«
»Nein. Aber Selbstmord ist nie normal, Frau Hilger. Selbstmörder handeln unter schwerem seelischen Druck. Sie sind in keinem normalen Geisteszustand, wenn sie die Tat begehen.«
»So. Aber sie schleppen ein Kletterseil mit sich herum, schleichen nachts in ein abgelegenes Waldstück, immerhin fünfzehn Kilometer von ihrer Wohnung entfernt, stapeln in völliger Dunkelheit Holzstämme, die dort zufällig herumliegen, zu einer Rampe auf, knüpfen einen professionellen Henkersknoten …«
»… ich könnte Ihnen eine Menge Fälle nennen, wo noch sehr viel mehr Ungereimtheiten zusammengekommen sind und dennoch kein Fremdverschulden vorlag. Ihr Bruder war depressiv, Frau Hilger.«
»Wer sagt das?«
»Zwei Zeugen, die befragt wurden. Ich weiß ihre Namen nicht mehr, aber ich habe die Vernehmungen gelesen. Ich glaube, es waren Arbeitskollegen.«
Elin schaute angewidert zur Seite. Zollanger sprach weiter. »Ihre Familie hat nur einen zusammenfassenden Bericht bekommen. Die Ermittlungen waren erheblich umfangreicher, als Ihnen scheint.«
»Woher hatte er das Seil?«
»Das müsste ich nachlesen.«
»Hatte Eric schmutzige Hände?«
»Frau Hilger, ich habe die Akte nicht auswendig im Kopf. Aber es wird im Obduktionsprotokoll vermerkt sein.«
»Wo kann ich diese Akten einsehen?«
Ihr Herz klopfte. Ihre Stimme zitterte ein wenig. Sie spürte, dass der Mann das bemerkte. Er sprach ruhig weiter.
»Die Unterlagen liegen bei der Staatsanwaltschaft. Akteneinsicht bekämen Sie nur über einen Anwalt. Und auch nur dann, wenn ein begründeter Verdacht vorliegt. Es ist ein aufwendiger Vorgang. Die Akten müssen gesichtet werden. Manche Unterlagen müssten wegen der Datenschutzbestimmungen aussortiert werden. Was glauben Sie, wie oft Angehörige von Menschen, die sich das Leben genommen haben, zu uns kommen und behaupten, es sei nicht richtig ermittelt worden. Ich verstehe Sie. Sie haben eine geliebte Person verloren. Sie können nicht begreifen, was Ihr Bruder getan hat. Da haben wir sogar etwas gemeinsam. Ich habe meinen Bruder auch nie begriffen.«
Er unterbrach sich. Elin wartete. Der Satz war dem Mann offenbar so herausgerutscht. Aber was ging sie das Privatleben dieses Polizisten an? Sie schüttelte unwirsch den Kopf und wollte etwas erwidern, aber er kam ihr zuvor:
»Die Zweifel, die Sie haben, werden die Polizeiakten nicht vollständig ausräumen können. Denn eine Erklärung für den Tod Ihres Bruders haben wir ja in der Tat nicht. Aber es ist auch nicht unsere Aufgabe, das Sterben von Menschen zu erklären. Wir ermitteln Straftaten. Und wir können nur sagen: Es gab keinerlei Anzeichen für Fremdverschulden.«
Elin öffnete ihre blaue Mappe, holte die Fotos heraus, die sie gestern Morgen im Wald gemacht hatte, und legte eines davon vor Zollanger hin. Er schaute kurz darauf, aß jedoch weiter.
»Was sehen Sie hier?«, fragte sie.
»Einen Ast mit einer Druckstelle.«
»So sah der Ast aus, an dem das Seil gehangen hat.« Sie legte ein zweites Foto auf das erste. »Und so sah er aus, nachdem ich nachgestellt habe, was in Ihrem Protokoll steht. Und das hier …«, sie legte das dritte Foto über das zweite, »… ist eine Aufnahme von der gleichen Stelle, nachdem ich einen Mann von zirka fünfundsiebzig Kilogramm Körpergewicht an einem über den Ast geworfenen Seil hochgezogen habe.«
Zollanger legte seine Gabel ab und betrachtete die Fotos. Dann legte er sie wieder hin, nahm seine Gabel wieder zur Hand, steckte das Stück Rührei, das sich noch darauf befand, in den Mund und kaute bedächtig.
Elin wartete. Zollanger kaute und schluckte, griff nach seiner Kaffeetasse, trank einen Schluck, griff dann nach seiner Serviette und tupfte sich den Mund ab.
»Wenn ich mich richtig erinnere, dann war Ihr Bruder vor seinem Tod seit fünf Monaten
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