Torso
arbeitslos. Er hat im vergangenen Sommer versucht, mit einem türkischen Partner einen Internettelefonladen aufzumachen. Die technische Anlage dafür hat er bestellt und erhalten, aber nicht bezahlt. Es lief ein Beitreibungsverfahren gegen ihn. Ich glaube, es ging um dreißigtausend Euro. Seine Wohnung war verwahrlost. Die Geschäftsräume, die er angemietet hatte, waren in halbrenoviertem Zustand und nach Aussage des Vermieters seit Wochen verlassen. Sowohl mit seiner Geschäftsraummiete als auch mit seinen Kreditraten war er mehrere Monate im Rückstand.«
Elin deutete auf die Fotos.
»Was hat das hiermit zu tun?«
»Spuren ohne Kontext sagen nichts aus. Wir wissen nicht genau, wie Ihr Bruder sich erhängt hat. Was im Protokoll steht, ist eine Hypothese aufgrund der Faktenlage. Ihre Rekonstruktion beweist vielleicht, dass diese Annahme ungenau oder sogar falsch gewesen sein kann. Aber sie beweist nicht, dass Ihre Annahme stimmt. Ihr Bruder kann alles mögliche mit diesem Seil veranstaltet haben. Hat er es über den Ast geworfen und dann erst mehrfach daran gezogen, um zu schauen, ob der Ast auch hält? Ist es ihm beim Versuch, es zu befestigen, vielleicht mehrfach abgerutscht? Wir wissen das alles nicht. Aber wir wissen, dass Ihr Bruder große finanzielle Probleme hatte, keiner festen Arbeit nachging, unter recht verwahrlosten Umständen lebte …«
»Eric hatte Angst«, unterbrach ihn Elin mit gepresster Stimme.
»Vor wem?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er sich kaum noch nach Berlin traute. Er war fast den ganzen Sommer über in Hamburg und sonstwo. Aber nicht in Berlin.«
»Typisch für Leute, die Schulden haben.«
»Eric hatte Geld.«
»Wo? Auf seinem Konto waren fast fünftausend Euro Miese.«
»Das wissen Sie also alles«, stieß Elin erregt hervor. »Aber in Wirklichkeit wissen Sie überhaupt nichts.«
Sie raffte ihre Fotos zusammen, steckte sie in die Mappe, griff nach ihrem Rucksack und ihrer Lederjacke und stand auf. Zollanger rührte sich nicht, sondern schaute sie nur an.
»Wissen Sie, Frau Hilger. Im Grunde dürfte ich gar nicht mit Ihnen reden.«
Elin atmete tief durch. War der Mann vielleicht noch stolz auf seinen beschissenen Beruf?
»Warum tun Sie’s dann?«
Zollangers linkes Augenlid zuckte kurz. Aber er erwiderte nichts.
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16
I nga Zieten war keine ängstliche Person. Und sie hatte auch keinerlei Grund, argwöhnisch zu sein, als sie am Sonntagabend ihren MINI in die Tiefgarage des Appartementgebäudes am Steglitzer Kreisel lenkte. Sie nahm nicht viel von ihrer Umgebung wahr. Erstens war sie von eineinhalb Stunden Powertraining, die hinter ihr lagen, ziemlich erschöpft. Zweitens steckten zwei kleine weiße Kopfhörer in ihren Ohren, aus denen mit ziemlicher Lautstärke
Genie in a Bottle
von Christina Aguilera zu hören war. Sie hätte den merkwürdigen Herrn, der neben dem Aufzug in der Dunkelheit auf sie wartete, auch ohne Kopfhörer nicht früher wahrgenommen. Und selbst wenn. Am Gang der Ereignisse hätte es nichts geändert.
Inga Zieten war zu diesem Zeitpunkt dreiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte ein sorgloses Leben geführt, war als einzige Tochter von Ulla und Hans-Joachim Zieten in einer Grunewalder Stadtvilla aufgewachsen, hatte die letzten zwei Schuljahre an einem Privatgymnasium in der Schweiz absolviert und danach in Genf und Los Angeles eine Wirtschafts-, Finanz- und Managementausbildung durchlaufen. Das Ganze hatte um die zweihunderttausend Dollar gekostet, was allerdings angesichts der Kontakte und Berufsperspektiven, die sich daraus ergaben, eher preiswert erschien. Natürlich hätte sie auch ohne ein solches Studium in das verzweigte Geschäftsimperium ihres Vaters eintreten können. Die Kunst, beim Jonglieren mit öffentlichen Geldern reich zu werden, lernte man ohnehin nicht im Hörsaal. Aber ihr Vater hatte nun einmal gewünscht, dass sie sich erst einmal ein wenig in der Welt umschaute, bevor sie bei ihm einstieg, wie er das nannte.
Inga Zieten war intelligent, aber nur mäßig hübsch, was in beiden Fällen daran lag, dass sie ihrem Vater in fast allem ähnlicher war als ihrer Mutter. Seit sie Julia Roberts in Erin Brockovich gesehen hatte, traktierte sie zwar ihre glatten dunkelbraunen Haare regelmäßig mit Föhn und Lockenwicklern, aber das führte nur dazu, dass sie aussah wie jemand, der wie jemand anderes aussehen wollte. Die etwas zu fülligen Waden und ihre bereits sich andeutende Hüftschwere gingen aus jedem noch so teuren
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