Torso
Wahrheiten seines Vaters erfolgreich beherzigt und dabei eine vierte entdeckt: Dass man seine Hand am besten in jenen Geldstrom senkte, der wirklich unerschöpflich war und aus dem sich nur wenige bedienen durften, und das war zweifellos der Steuergeldstrom. Ja, was war schon die Gründung einer Bank gegen die Gründung einer Landesbank?
Natürlich konnte Hans-Joachim Zieten keine Landesbank gründen. Aber sein Parteibuch gestattete es ihm, anderen dabei behilflich zu sein und sich auf diese Weise einen einflussreichen Posten zu sichern. So war er heute in einer unschlagbaren Situation. Er war Chef der Zieten Privatbank, saß jedoch im Aufsichtsrat der gewichtigen Treubau-Gesellschaft oder TBG , einer hundertprozentigen Tochter des landeseigenen Konzerns Volkskreditgesellschaft VKG . Mit der VKG hatte er genau das aufgebaut, was die politischen Herren der Stadt vor ein paar Jahren gewünscht hatten: einen Finanzverbund, der es ihnen gestatten würde, den Boom der Wendejahre zu nutzen, um kräftig zu verdienen. Nicht nur an der projektierten Explosion der Immobilienpreise, sondern auch an der unweigerlich entstehenden Führungsrolle der Stadt als internationalem Finanzplatz.
Zieten hatte diesen Ballon VKG so erfolgreich aufgeblasen, dass ihm angesichts der Zahlen in den ersten Jahren manchmal selbst schwindlig geworden war. Und mit den ersten Erfolgen waren auch sogleich die Erwartungen gestiegen. Mehr Risiko, hatte man von ihm gefordert. Und vor allem: mehr Rendite. Warum sollte er hohe Parteifunktionäre anders behandeln als die einfältige Oma am Bankschalter, die glaubt, was in den Prospekten steht? Er hatte geliefert. Es war nicht schwer gewesen. Da alle Geschäfte hinter der schützenden Fassade der VKG stattfanden und somit durch das Land abgesichert waren, war der Kapitalzustrom kaum zu stoppen gewesen. Und hätte er, der dieses massenhaft heranströmende billige Geld mit phantastischem Gewinn für seine Zieten Bank weiterverteilen konnte, den Zustrom stoppen sollen? Alle verdienten gut. Die Parteien brauchten Geld und Posten in den zahllosen Aufsichtsräten von Dutzenden weiterer Finanzgesellschaften, die sich mittlerweile um diesen Kapitalsee gebildet hatten. Was konnte man mit diesem närrischen Geld nicht alles tun. Wen nicht kaufen? Wählerstimmen. Betriebsräte. Verbündete.
Freilich wusste Zieten die ganze Zeit, dass das Ganze ein Hütchenspiel war und nur so lange funktionieren konnte, wie der Zustrom nicht stoppte. Und genau dies drohte jetzt einzutreten. Der Motor stotterte, die Maschine knirschte. Mehrere große Projekte gerieten gerade in finanzielle Schieflage, und die Presse war hellhörig geworden. Die Artikel lagen auf seinem Schreibtisch, akribisch von ihm durchforstet nach Hinweisen darauf, wie viel die Leute tatsächlich wussten. Natürlich hatte die Presse im Moment noch keine Ahnung vom tatsächlichen Ausmaß der Problematik. Es würde Jahre dauern, bis das sichtbar wurde. Ja, das wirklich Geniale an seiner Konstruktion war es ja gewesen, dass die gigantische öffentliche Verschuldung, die sein System unweigerlich erzeugte, nur für ganz wenige Personen erahnbar war. Und diese wenigen Personen hatten kein Interesse an dieser Information. Nicht nur kein Interesse. Sie scheuten sie wie der Teufel das Weihwasser. Denn diese Information war giftig, hochgiftig. Man könnte sagen: Verfassungsrechtlich erfüllte sie den Tatbestand des Landes- oder Hochverrats.
Zietens Finanzmaschine war etwas völlig Neues, etwas in dieser krassen Form noch nie Dagewesenes. Sie setzte klammheimlich ein Prinzip außer Kraft, um das in Europa über Jahrhunderte blutig gekämpft worden war: das Recht des Volkes, die Staatsausgaben zu bewilligen. Zieten musste regelrecht lachen, wenn er daran dachte. Haushaltskontrolle durch Parlamente? Den Herrschenden vorschreiben, was mit dem Volksvermögen zu geschehen hatte? Was für eine Posse! Er hatte ein System gefunden, den Herrschenden das Volksvermögen der nächsten dreißig Jahre auf den Tisch zu legen, ohne jegliche Kontrolle durch irgendwelche Volksvertreter. Jetzt musste er nur zusehen, dass sein noch unsichtbares Schuldenraumschiff auf seinem geplanten Kurs nach Sankt Nimmerlein blieb und nicht zurückkehrte, bevor er und seine Seilschaften sich aus dem Staub der Geschichte gemacht hatten. Denn das konnte wirklich gefährlich werden. Auch für ihn.
Die Lösung hatte er in den letzten Monaten gefunden. Es war ein gehöriges Stück Arbeit gewesen, und diesmal war
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