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Torso

Torso

Titel: Torso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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War sie vielleicht krank und hatte ihr Handy nicht angeschaltet?
    Ulla Zieten stieg aus, warf einen flüchtigen Blick auf Ingas Auto und ging zum Fahrstuhl. Warum war sie nur so unruhig? Weil Inga nicht dazu neigte, sie einfach zu versetzen. Aber gut. Gleich würde sie ihr wohl erklären, warum sie weder zurückgerufen hatte noch, wie gestern verabredet, auf dem Weg zu Caltus und Spranger war. Oder war sie vielleicht nicht allein?
    Ulla Zieten zögerte, als sie endlich vor der Wohnungstür ihrer Tochter stand. Sollte sie klingeln? Hatte Inga vielleicht unvorhergesehenen Herrenbesuch? Sie zog ihr Handy aus der Tasche und drückte die Wahlwiederholung. Drei Sekunden später erklang gut hörbar das charakteristische Nokia-Klingeln hinter der Wohnungstür. Es klingelte sieben Mal, dann meldete sich die Sprachmailbox. Dies war der Moment, da Ulla Zietens Unruhe in milde Panik umschlug. Wo war Inga? Ihre Knie wurden ein wenig weich. Ihr Atem ging schwerer. Ihr Herzschlag wurde schneller. Sie klingelte. Dann klopfte sie gegen die Tür. Keine Reaktion.
    Und nun rief sie ihren Ehemann an.
    »Hans-Joachim«, sagte sie ohne Umschweife. »Weißt du, wo Inga steckt?«
    »Nein, meine Liebe, das weiß ich nicht. Ich dachte, du triffst sie heute.«
    »Ich stehe vor ihrer Haustür. Wir waren um vier verabredet. Sie ist nicht gekommen. Also bin ich zu ihr gefahren. Aber sie ist nicht da.«
    »Hast du sie angerufen?«
    »Was meinst du denn. Natürlich. X-mal. Ihr Handy liegt in ihrer Wohnung. Das Auto steht in der Garage. Aber sie reagiert einfach nicht.«
    Hans-Joachim Zieten schaute sich im Spiegel an. Er hatte nämlich die Angewohnheit, vor wichtigen Unterredungen strengste Körperpflege zu üben. Er putzte seine Zähne, überprüfte seine Frisur, jagte unerwünschten Härchen in Nase und Ohren nach, cremte seine immer ein wenig trockenen Hände ein und musterte seine Fingernägel. Tadellos gekleidet und gepflegt zu sein war eine seiner ältesten Marotten. Wenn er schon in dieser primitiven Stadt und Zeit leben musste, dann bitte schön mit Stil. Die Unterredung, die gleich vor ihm lag, war außerdem von so außerordentlicher Wichtigkeit, dass die zehn Minuten Maskenübung vor dem Spiegel wirklich kein Luxus waren. Und ausgerechnet dabei hatte Ulla ihn gestört.
    »Aha«, rief er beruhigt. »Ulla. Zisch einfach wieder ab, okay. Wenn du dir nicht den Zorn deiner Tochter zuziehen willst.«
    »Was meinst du damit …?«
    »Ganz einfach. Inga ist dreiundzwanzig und möchte vermutlich nicht gestört werden, wenn sie überhaupt zu Hause ist. Verstehst du?«
    Die drei Sekunden Schweigen am anderen Ende nutzte er dazu, ein Nasenhaar zu entfernen, das ihn schon länger gekitzelt hatte. Die Pinzette bekam es zu fassen. Aber bevor er dazu kam, es mit einem kurzen Ruck herauszuziehen, blaffte Ulla ihn durch das Telefon an.
    »Du schickst sofort Jörg mit dem Zweitschlüssel hierher, ja? Hier stimmt etwas nicht. Ich warte.«
    Hans-Joachim Zieten legte sein Handy ab. Er erwischte das flüchtige Haar, hielt die Pinzettenspitze ein paar Sekunden unter fließendes Wasser und verstaute sie dann sorgfältig in einem dunkelroten Necessaire. Danach warf er einen letzten Blick in den Spiegel, fand alles wunderbar und verließ das Badezimmer. Erst dann aktivierte er eine einprogrammierte Nummer.
    »Jörg? Wo sind Sie? Tegel. Hm. Hören Sie. Kommen Sie bitte kurz ins Büro in die Mommsenstraße. Ich hinterlege an der Rezeption einen Schlüssel für Sie, der gleich nach Steglitz muss. Meine Frau erwartet Sie dort. Adresse lege ich dazu. Und … bitte rufen Sie sie an, dass Sie auf dem Weg sind, ja? Danke.«
    Dann stellte er das Gerät auf Vibrationsalarm und versenkte es in seiner rechten Innentasche.

[home]
20
    W enn Hans-Joachim Zieten einen Raum betrat, dann geschah etwas Bemerkenswertes: Alle Aufmerksamkeit wanderte zu ihm. Woran das lag, war schwer zu sagen. Ja, er wusste es selbst nicht. Er war weder besonders groß oder korpulent, auch nicht auffallend gutaussehend oder hässlich. Er war einfach eine Führungspersönlichkeit. Die Menschen vertrauten ihm instinktiv, was in seinem Fall allerdings eine gefährliche Instinktlosigkeit bedeutete, denn Hans-Joachim Zieten war wohl der letzte Mensch, dem man Vertrauen schenken durfte. Aber so war es nun einmal. Es fiel unendlich schwer, ihn nicht zu mögen. Seine warme, helle, sanfte und doch feste Stimme, die Art, wie er einen Kunden bei vertraulichen Gesprächen am Arm nahm, um zu signalisieren: Keine

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