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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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ihnen ist er noch immer blau. Sie schneidet ein paar Rosen von dem Busch im Balkonkübel und stellt sie in einer Vase neben die Ausziehcouch, auf der Elsie schlafen wird. »Wie lange?«, hat Leo wissen wollen. »So lange, bis es ihr besser geht«, hat sie geantwortet. »Solange sie will.«
    Vicky, Elsie und Elsa sitzen auf dem Sofa vor dem Fernsehapparat, jede hat ein Glas giftgrüner Bowle in der Hand. Vickysist fast leer, Elsas halb und Elsies noch voll. Elsie sieht so abgemagert und blass aus, am liebsten würde Vicky ihr etwas einflößen, heiße Milch mit Honig, obwohl das bei der Hitze sicher nicht auf Begeisterung stoßen würde.
    »Nimm«, sagt sie und hält Elsie den Käseigel unter die Nase. Geistesabwesend nimmt Elsie einen Holzspieß mit Weintrauben und Käsewürfeln und dreht ihn zwischen den Fingern. Auch Elsa scheint in Gedanken woanders. Und Leo nicht nur in Gedanken. So hat sie sich den gemeinsamen Abend nicht vorgestellt.
    Die Anfangsmelodie der Hitparade ertönt, wie auf ein Signal dreht sich ein Schlüssel im Schloss. Gerade als Dieter Thomas Heck verkündet: »Hier ist Berlin! Das Zweite Deutsche Fernsehen präsentiert Ihnen Ausgabe Nummer sieben der Hitparade!«, tritt Leo herein. Setzt sich, als wäre nichts gewesen, in seinen Ohrensessel, gießt ein Glas Bowle ein, kaut mehrere Käsespieße weg und starrt auf den Bildschirm. Auf einer Liste notiert er die Namen der Schlagerstars, und wie jedes Mal, darauf würde Vicky wetten, wird er nach der Sendung eine Postkarte ans ZDF schicken, um sich an der Publikumsabstimmung zu beteiligen. Schließlich geht es darum, wer in der nächsten Sendung wiederkommen darf.
    »Du sollst nicht weinen, wenn ich einmal von dir gehen muss«, singt mit glockenheller Stimme ein blonder Junge. In Großaufnahme wird eine Frau aus dem Publikum eingeblendet, die sich Tränen aus den Augen wischt. »Für den hast du hoffentlich nicht gestimmt!«, ruft Vicky. Wenn Elsie jetzt nicht mitlästert, muss es ihr noch sehr schlecht gehen. Kann man sie denn mit gar nichts aufheitern?
    »Wärst du böse, wenn ich mich hinlege? Die Medikamente … Ich bin so müde«, sagt Elsie. Während Vicky Elsie in ihr Zimmer begleitet, bleibt Elsa mit Leo allein vor dem Fernseher zurück. Der zieht Elsies Teller zu sich und macht Kreuzchen auf seiner Schlagerstarliste. Elsa rutscht unruhig auf dem Sofa hinund her, schiebt auch ihren Teller in Leos Richtung und springt auf.
    »Ich muss telefonieren.« Warum geht in dieser verdammten WG keiner ans Telefon? Stephie muss doch zu Hause sein. Vielleicht liegt sie im Bett und schläft. Hoffentlich. Sie soll viel schlafen, haben die Ärzte bei ihrer Entlassung betont. Vor allem liegen und nochmals liegen. Elsa hätte sie so gerne aus der Klinik mit nach Hause genommen, »du kannst in deinem alten Zimmer schlafen«, hat sie gesagt, aber Stephanie wollte davon nichts wissen. Kann sie verstehen, es ist ja nicht mehr das alte Zimmer, fast alles aussortiert, in Säcke und Kisten gepackt. Sie zuckt zusammen, als nach minutenlangem Freizeichen eine Stimme aus dem Hörer kommt. »Stephanie«, sagt ein junger Mann schleppend auf ihre Frage, »keine Ahnung.« Außer ihm sei keiner zu Hause, alle ins Obdach gegangen. Welches Obdach? Na, das »Unergründliche Obdach für Reisende«, am Fasanenplatz. Und plötzlich, er klingt erschrocken, wer sie denn sei?
    »Ich muss los«, sagt Elsa zu Leo, »nach Stephanie sehen.« Laut fällt hinter ihr die Tür ins Schloss, während Udo Jürgens in weißem Anzug und offenem Hemd in die Tasten haut. »Es wird Nacht, Señorita, und ich hab kein Quartier …«
    Noch in der Tür hört Elsa das Lachen. Stephanies klares Lachen im Stimmengewirr, das ihr auf der Schwelle zum »Unergründlichen Obdach für Reisende« entgegenschallt. Auch das Lachen ihrer Tochter wird sie immer heraushören aus allen anderen. Mit weichen Knien geht Elsa zu einem freien Platz in einer Nische, fort aus dem Blickfeld der Gruppe, mit der Stephanie um einen runden Tisch sitzt. Ganz entgegen ihrem Vorsatz, ihr Kind auf der Stelle nach Hause zu verfrachten und dort wenn nötig am Bett zu bewachen, bis es auskuriert ist. Doch im selben Augenblick, als sie Stephanies Lachen gehört und einen Blick auf sie erhascht hat, ihren Rücken und den nackten Arm um dieSchultern ihres Nebenmanns gelegt, da hat sie gewusst, dass sie jetzt unter keinen Umständen in Stephanies Welt hineinplatzen darf.
    Allein am Tisch in ihrer Nische erinnert sich Elsa an den peinlichen

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