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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Leo mit seiner Frau in die Herrenkonfektion des KaDeWe gekommen, jahrelang hat sie versucht, dem unsäglichen Geschmack der Gattin entgegenzusteuern. Aber das durfte sie sich nicht anmerken lassen, die Ehefrauen der Stammkunden, hat sie die Erfahrung gelehrt, sind ebenso wichtig wie die Stammkunden selbst. Also hat sie sich bemüht, der Ehefrau in Kleinigkeiten recht zu geben, um sie in wesentlichen Fragen umzustimmen. Von Mal zu Mal lag ihr mehr daran, diesen ebenso gut aussehenden wie sympathischen Herrn vor Verunstaltung zu bewahren. Dann war er längere Zeit weggeblieben, und sie hatte geglaubt, seine Frau ließe ihn nicht mehr ins KaDeWe zu dieser Verkäuferin, nach deren Beratung er immer ganz anders aussah, als sie es sich vorgestellt hatte. Und von der er sich doch jedes Mal beraten lassen wollte, von dieser und keiner anderen. Eines Tages stand er wieder in ihrer Abteilung, allein, ohne Ehefrau. Er trug einenschwarzen Anzug und wollte einen weiteren schwarzen Anzug. Mitten in der Anprobe des sechsten schwarzen Anzugs sagte er: »Wollen Sie nicht wissen, wann meine Frau gestorben ist? Mir herzliches Beileid wünschen?« Da hat sie ihm in die Augen gesehen und gesagt: »Sie sollten kein Schwarz tragen. Es steht Ihnen überhaupt nicht. Sie sind nicht der Typ für Schwarz.« Schon erstaunlich, dass man nach einer solchen Bemerkung einen Heiratsantrag erhielt.
    Als Vicky später die Flaschen aus dem Keller holen will, stehen sie aufgereiht vor der Tür. Leo selbst ist noch nicht wieder aufgetaucht. Sie schüttet Apfelsaft in das Bowlegefäß und gießt Zitronensaft hinzu. Spätestens heute Abend ist er wieder hier, da ist sie sicher. Er wird doch seine geliebte Hitparade nicht verpassen. Und sie freut sich seit Tagen auf Elsie, die Elsa heute aus dem Krankenhaus abholen und zu ihnen bringen wird. Vicky hält den Waldmeister und die Zitronenmelisse unter den dünnen Wasserstrahl und wäscht die Blättchen vorsichtig ab. Oh Mann, eine Waldmeisterbowle ohne Alkohol, damit hätte man sie vor zehn Jahren zwangsernähren müssen. Aber sie wird Leo ewig dankbar sein, dass er sie mit Liebe, Geduld und Spucke vom Trinken abgebracht hat. Vicky lächelt, als sie die Blättchen in das Bowlegefäß fallen lässt. Geduld und Spucke, bloß so eine Redensart, aber in diesem Fall kann man es ruhig ein wenig wörtlich nehmen, denn Leo küsst wundervoll. Beinahe, ja, beinahe so wie … Meine Güte, an den hat sie jetzt wirklich ein Weilchen nicht gedacht. Zuletzt, wann war das, als Jonas sich bei ihr verplappert hat. Als herauskam, dass er abends gar nicht Englisch übt mit einem Freund, um sich auf die USA vorzubereiten, sondern Platten auflegt in einer Diskothek. Natürlich wird sie seiner Mutter nichts verraten, hat sie ihm versprochen, und bei sich gedacht: ganz der Großvater. Harry, der abends Trompete in der Jazzband spielte, während seine Eltern dachten, er würde für Klavierkonzerte üben. Harry in der Bar, Shimmyund Schwindel, Harrys Gesicht, das sich vor ihr drehte, als seine Lippen sich näherten …
    Sie nimmt als letzte Zutat die Walderdbeerblätter, die geben dem Ganzen das krönende Aroma, aber sind schwer zu bekommen und aufzubewahren. Den halben Vormittag ist sie auf der Suche danach von einem Marktstand zum anderen gelaufen bei der Affenhitze. Die Marktfrauen priesen ihre Waren mit ermatteter Stimme an. Eine war unter ihrem Sonnenschirm eingenickt, mit dem Kopf auf der Brust saß sie da und schnarchte. Irgendein Bengel klaute der Frau unter der Nase die Pflaumen weg, bis sie die Schläferin weckte. Ausgerechnet die hatte Walderdbeerblätter. Vicky probiert einen Schluck der Bowle. So übel schmeckt sie gar nicht. Schön erfrischend. Und wenn erst mal die Kräuter ihr Aroma entfaltet haben … Warum jetzt ausgerechnet die Walderdbeerblätter sie an Harry erinnern, Harry und seine Küsse? Vicky dreht den Wasserhahn voll auf und hält das Gesicht unter den kalten Strahl. Ah, tut das gut!
    Nach einem Blick auf die Küchenuhr holt Vicky das Bowlegefäß aus dem Kühlschrank. Die Kräuter sollen höchstens drei Stunden ziehen, nicht länger. Als Letztes gießt sie das Mineralwasser in den Krug. Es kommt ihr vor, als wäre es im Laufe des Tages immer schwüler geworden. Einen Moment steckt sie den Kopf in den offenen Kühlschrank. Gut, dass Leo das nicht sieht, diese Energieverschwendung. Allmählich könnte er wirklich zurückkommen! In der Ferne hört sie Donnergrollen und schaut vom Balkon in den Himmel, über

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