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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Moment, als sie zum ersten Mal allein mit Stephen in der »Femina-Bar« war und Vicky dort aufkreuzte. Sie saßen in einer der Nischen, sie auf seinem Schoß, da tauchte das Gesicht ihrer Mutter in einem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand auf. Ohne zu überlegen, riss sie Stephen an sich und begann eine Knutscherei, dass ihm Hören und Sehen verging. So blieb ihr Gesicht hinter Stephens Kopf verborgen, und Vicky war wieder abgezogen. Doch nie wird sie ihren Anblick vergessen, die Augen ihrer Mutter, suchend und verloren, ihr nacktes Gesicht. Sie will nicht, dass ihre Tochter sich so an sie erinnert.
    Nun sitzt sie in der Falle. Wenn sie das Lokal verlassen will, muss sie an Stephanies Tisch vorbei. Wenn die sich in dem Moment umdreht, zum Ausgang schaut oder einer ihrer Mitbewohner sie erkennt? Niemand wird ihr glauben, dass sie zufällig in diese Szenekneipe geraten ist, in der die Wände mit Plakaten und Postern gepflastert sind, mit Aufrufen zu Demos und Soli-Aktionen, Forderungen nach Freiheit für Ulli, Tommy und Tina. Zum Glück ist dieses Obdach für Reisende wirklich unergründlich mit seinen dunklen Ecken. Niemand kommt, um eine Bestellung aufzunehmen, die Theke ist verlassen. Auf dem Nebentisch steht ein Stammtischschild aus Messing: »Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen«. Ein einzelner Haschrebell, des Umherschweifens müde, hat sein lockiges Haupt auf die Tischplatte gebettet. Vom runden Tisch am Fenster, aus Stephanies Gruppe, dringen Fetzen ihrer Diskussionen herüber. Deutlich hört sie die Stimme ihrer Tochter heraus.
    »Leute, wir dürfen das Ding mit den sogenannten Deserteuren nicht isoliert betrachten. Wir müssen die strukturellen Zusammenhänge sehen, die Klasseninstitutionen, die Nazirichter …«
    Mitten in ihren Satz schlägt jemand mit der Faust auf den Tisch. »Yeah! Zerschlagt die Justiz mit dem Joint in der Hand!«
    In das Gelächter mischt sich eine Frauenstimme: »Ich hab die Schnauze voll von eurem Bürgerkriegsgetue und Schweinesystem. Wie wär’s stattdessen mit ’nem fetten Schweineschnitzel?«
    Bei der Erwähnung des Schnitzels fällt Elsa ein, dass sie ihrer Mutter gar nicht Bescheid gesagt hat, bevor sie überstürzt aufgebrochen ist. Dabei hat die sich so auf den Samstagabend gefreut, im Kreis von Ehemann Nummer zwei, Tochter und liebster Freundin, die zumindest fürs Erste gerettet scheint. Und um die sich Vicky, seit der Krebsdiagnose und in den Monaten der Chemotherapie und der Klinik, rührend gesorgt hat, nach den vielen Jahren, in denen sie meist selbst das Sorgenkind der Familie war. Ob sie zu Vicky und Leo zurückfahren soll? Aber wie kommt sie hier raus, ohne entdeckt zu werden? Da fällt ihr auf, dass die Diskussionen am Tisch ihrer Tochter abgeebbt sind. Süßlich-herber Rauch zieht durch die Räume und legt sich wie ein Schleier über Gäste, Theke und Tische. Und Elsa findet durch die Küche des Lokals endlich einen Ausweg.
    Auf dem Heimweg in der Bahn schlägt sie die Abendzeitung auf. In den Nachrichten vor der Hitparade gab es einen kurzen Bericht über Woodstock, das Musikfestival, zu dem auch Jonas gefahren ist. Verstörende Bilder von Hunderttausenden, die in Staus steckten, in Schlamm und Regen kampierten, von einem Ansturm der Massen auf die kleine Siedlung Bethel, der alles aus den Angeln hob. Betörende Bilder von fremden Menschen, die Decken und Essen teilten, mit ihren Kindern nackt in den See sprangen und mit glücklichem Lächeln im Wolkenbruch tanzten. Komische Bilder von Männern, nackt bis auf die Blätterkränze auf ihren Köpfen, wie eine Persiflage getarnter Soldaten. Frauen mit dunklen Sonnenbrillen und nackten Brüsten, die sich mit einem Baby auf der Hüfte zur Musik wanden. Diese Musiker und Festivalbesucher sahen anders aus als die Schlagerstarsder Hitparade und das Publikum im Saal bei Dieter Thomas Heck. Und inmitten dieser halben Million Menschen ihr Sohn. Das Herz hat ihr bis zum Hals geschlagen, als die Fernsehbilder von Woodstock kamen und sie Jonas in ihnen suchte. Auch jetzt fahndet sie auf den Fotos in der Zeitung nach ihm, aber Jonas winkt ihr nicht, nickt ihr nicht zu: Alles in Ordnung, Mama. Auch er scheint so unendlich fern, auf einem anderen Planeten. Sie hat ihn fliegen lassen und kann nichts tun, nur hoffen, dass er ein Jahr später wieder heil bei ihr landet.
    Zu Hause in ihrer leeren Wohnung stößt Elsa sämtliche Fenster auf, um die stickige Luft hinauszulassen, doch auch draußen steht die Wärme wie

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