Torstraße 1
der eine kann überhaupt nicht herüber, und die andere muss vorher ein Visum beantragen. Schreiben kann sie ihm in dieser Sache nicht. Und sie weiß auch nicht, ob ein unangemeldeter Westbesuch Bernhard nicht zusätzlich Ärger einbringen würde. Bestimmt hat er ohnehin genug davon, mit einer Tochter und einem Schwiegersohn bei den Staatsfeinden und einem Schwager bei der Stasi – und er selbst laviert sich so durch zwischen Parteizeitung und Geschichtsarchiv. Das Einzige, worum sie ihn beneidet, ist sein alltäglicher Zugang zu ihrem Haus.
Beinahe wäre Elsa zu weit gefahren, gerade rechtzeitig biegt sie um die Ecke in Vickys Straße. Auf der Fahrt durch Berlin hat sie mehrere Stadtteile und Wetterfronten durchquert. Bei Vicky in Tempelhof scheint die Sonne.
»Meine Liebe!« Ihre Mutter schaut sie freudestrahlend an. Am Tulpenstrauß kann es nicht liegen, der kommt ihr auf einmal schäbig vor. Vicky zieht sie fest an sich, und ihr steigt ein verwirrender Duft in die Nase, vergessen und vertraut, ein Aroma aus Kindertagen. Elsa macht sich los und fragt nach einer Vase. Da kommt Elsie um die Ecke gebogen, auch sie verströmt diesen Duft, auch sie hat sich wie Vicky in Schale geworfen, beide tragen Kleider im Charlestonstil und lange Perlenketten. Seit Elsie auch ihre zweite Brust an den Krebs verloren hat, trägt sie die gerade geschnittenen Kleider, die sie schon als junge Frau gemocht hat und die für schmale, kurvenlose Körper gedacht waren. Elsie hatte es gehasst, nur eine Brust zu haben, und sich geweigert, das leere Körbchen mit Watte auszustopfen. Niemand hatte damals geglaubt, dass sie eine zweite Operation überstehen würde. Niemand außer Vicky, für die etwas anderes gar nicht infrage kam.
»Warum hat mir keiner gesagt, dass das heute ein Galaabend wird?«, fragt Elsa und sieht an sich herab. Auch ihre graue Hose und der weinrote Pullover kommen ihr nun schäbig vor. Und dann biegt noch ein weißhaariger Herr im Smoking um die Ecke. Das wird wohl Elsies Ferdinand sein. Offenbar musste Elsie die Fünfundsiebzig überschreiten, bis sie sich alt genug für einen festen Freund fühlte. Bis dahin gab es wechselnde Bekannte, die, wenn überhaupt, nur Vicky zu Gesicht bekam. Auf Diskretion bedachte Ehemänner oder Junggesellen fortgeschrittenen Alters, die unter allen Umständen Junggesellen bleiben wollten. Und Elsie war selbst so eine Junggesellin gewesen. Auch mit Ferdinand ist sie nicht zusammengezogen, daran gewöhnt man sich nicht mehr, hat sie gemeint. Immerhin, er kommt jetzt zu Familienfeiern.
Während Vicky und Elsie in der Küche verschwinden und Ferdinand auf dem Balkon eine Zigarre raucht, trudeln Stephanie und ihre Freundin Nick ein. Elsa ist froh, dass sie sich einen Moment alleine mit den beiden unterhalten kann. »Habt ihr schon etwas erreicht?«
»Jetzt fängst du auch noch damit an!«, regt sich Stephanie auf. »Jonas hat schon zwei Vormittage unsere Kanzlei belagert. Wir tun, was wir können, für Luise und Uwe. Aber in solchen Fällen braucht es Diplomatie und Geduld. Fremdworte für meinen Bruder.«
Elsa schaut ihre Tochter an. Sie wirkt oft überarbeitet, aber heute sieht sie besonders blass aus. »Na, du weißt ja«, versucht sie zu vermitteln, »er ist gerade in einer besonderen Situation.«
»Steph ist auch in einer besonderen Situation«, sagt Nick, und Elsa wundert sich, dass Stephanie zusammenzuckt. »Die Verteidigung der Hausbesetzer, die in Kreuzberg abgeräumt wurden, mit Zustimmung ihrer Parteifreundinnen von der AL. Das ist ein ganz heikler Fall.« Nick legt Stephanie einen Arm um die Schulter. Gleich wirkt sie entspannter.
Wieder klingelt es. Ob das schon Jonas ist? Er hat versprochen, später vorbeizukommen. Vicky läuft zur Tür, begrüßt den Gast und verschwindet wieder in der Küche. Einen Moment muss Elsa überlegen, wer der Mann ist, der verlegen im Türrahmen des Wohnzimmers steht. In die Runde blinzelt, als sei er soeben von sonst wo gelandet und müsse sich erst orientieren. Die schütter gewordenen blonden Haare, die Brille mit Metallrand, der Schnurrbart über dem kleinen Mund …
»Klaus!« Sie springt auf, um ihn zu begrüßen. Er streckt ihr erst die Hand entgegen, klopft ihr dann auf die Schulter. Steht wieder reglos im Raum, während die anderen ihn mustern.
»Mutter hat darauf bestanden, dass ich komme«, sagt Klaus in die schweigende Runde. »Keine Ahnung, warum ausgerechnet dieses Jahr.«
»Das ist Klaus«, sagt Elsa zu Stephanie und Nick. Und
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