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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1
Autoren: Sybil Volks
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Westen«, sagt Luise und lacht. »Hat Angst, dass jetzt alles den Bach runtergeht, und wollte sich der Angst erst mal allein stellen, hat er gesagt. Den real existierenden Kapitalismus gehter später angucken, damit er nicht besoffen wird vor lauter Freudseligkeit.«
    Sieh mal einer an, denkt Bernhard, ist der Junge klüger als meine Tochter. Und Freudseligkeit ist auch ein schönes Wort. Er legt den Hörer auf und setzt sich ins Wohnzimmer. Da sitzt er, auf der riesigen Couch, die er zusammen mit Elisa gekauft hat, im Möbelhaus am Alexanderplatz. Was dieser Kauf für ein Akt gewesen war. Drei Monate lang waren sie einmal in der Woche morgens in das Möbelhaus gelaufen, immer, wenn neue Ware kam. Haben sich eingereiht in die Schlange wartender Menschen, sind in den Ausstellungsraum gestürmt, wo die zum großen Teil noch unausgepackten Polstergarnituren standen. Und wer zuerst die Hand drauflegte und meins sagte, hatte das Stück. Keine Zeit für Probesitzen oder lange Überlegungen. Nach drei Monaten hatten sie endlich eine Couchgarnitur entdeckt, die zumindest passabel aussah. Zwar hatte er noch Bedenken geäußert, ob das Teil nicht viel zu wuchtig für ihr Wohnzimmer sei, aber da hatte Elisa schon beide Hände auf die Rückenlehne gelegt. Jetzt sitzt er auf der Couch und überlegt, ob er bald mit Elisa über die Aufteilung des Hausstandes reden muss. Sie kann die Couchgarnitur haben, denkt er. Sie ist wirklich zu groß. Aber vielleicht kommt es gar nicht so weit, dass sie sich um Schrankwand und Couchgarnituren streiten müssen. Vielleicht wird noch alles gut. Und in diesem Augenblick, da er das denkt, kommt ihm eine andere Vorstellung in den Sinn. Wenn er will, kann er morgen Elsa sehen. Er kann aufstehen, sich anziehen und über einen der Grenzübergänge laufen. Und hinter der Grenze Elsa treffen.
    Bernhard nimmt den Wohnungsschlüssel vom Haken und geht in den Keller. Holt die Elsakiste unter Zeitungsstapeln und Bücherkisten hervor. Denkt an einen längst vergangenen Tag, an dem er im kalten Keller gestanden und in der Elsakiste gekramt hat. Weihnachten war das, Luise war ein kleines Kind und Karlaeine lebendige Frau. Seine Frau. Jetzt nimmt er die Kiste mit ins Wohnzimmer. Heimlichkeiten sind nicht mehr nötig. Er nimmt Fotos von Elsa heraus, fährt mit dem Zeigefinger einmal um Elsa herum, malt ihren Körper nach, als könne er sie damit ins Wohnzimmer zaubern. Betrachtet ein Porträt von sich, das sie einmal aus dem Gedächtnis gezeichnet hat. Er kann alles auf dem Tisch ausbreiten und muss sich nicht verstecken. Nicht vor der Ehefrau, nicht vor der Liebsten, nicht vor den Kollegen und nicht vor den Jungs von der Firma. Er ist frei, frei in jeder Beziehung. Das ist der Tag, an dem ihm alles um die Ohren fliegt, was er getan und aufgebaut hat. Das, woran er geglaubt hat, genauso wie die Lügen. Nichts wird bleiben. Ganz leicht fühlt er sich auf einmal.
    In dem abgegriffenen Heftchen, in das er seit jeher Telefonnummern notiert, steht ganz hinten auf der letzten Seite, die keinen Buchstaben mehr trägt, sondern nur eine letzte Seite ist, Elsas neue Nummer. Er hat sie von Luise bekommen und die wahrscheinlich von Jonas, mit dem sie immer in Verbindung geblieben ist. Jonas hat in Westberlin Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um die Freilassung von Luise und Uwe zu erwirken. Und er selbst hat es hier mit allen Mitteln versucht, sogar mit einem Kniefall vor seinem Schwager. Was am Ende den Ausschlag gegeben hat, dass die Anklage fallen gelassen wurde, weiß er bis heute nicht. Aber der Bittgang zu Charlottes Mann war einer der schwersten Gänge seines Lebens.
    Er wählt Elsas neue Telefonnummer, die er noch nie gewählt hat, und wartet auf das Zeichen. Besetzt. Er legt auf und versucht es zehn Sekunden später noch einmal. Besetzt. Jetzt erst kommt ihm in den Sinn, dass heute Nacht wahrscheinlich die halbe Welt Westgespräche führt und versucht, Freunde und Verwandte ausfindig zu machen oder einfach nur auf den Besuch aus der DDR vorzubereiten. »Schön blöd bin ich«, murmelt Bernhard und ist erleichtert. Was hätte er denn gesagt, wäre wirklich Elsa am anderen Ende der Leitung gewesen?
    Der letzte Brief von Elsa war eine Trauerkarte. »Ich weiß«, hat sie handschriftlich auf die gedruckte Karte an ihn und Luise geschrieben, »dass ihr in Gedanken bei uns seid an diesem Tag.« An diesem Tag, bei Vickys Beerdigung im Frühjahr, war Luise noch inhaftiert, und an eine Besuchsgenehmigung war auch für
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